Leben in Kiew: Vor dem Krieg sind alle gleich
In der ukrainischen Hauptstadt ereilt einen der Luftalarm im Supermarkt, und die Verkäuferin steckt alle Kunden in den Lagerraum. Eindrücke aus Kiew.
Ungeachtet dessen, dass immer mehr Menschen Kiew verlassen und die Kämpfe bereits in der Umgebung der Stadt stattfinden, ist bislang noch keine Panik ausgebrochen. „Zum Luftschutzbunker gehe ich mittlerweile schon wie früher zur Arbeit“, sagt eine Bekannte zu mir. Und eine der besten Investigativ-Journalistinnen der Ukraine, Kristina Berdynskykh von der Zeitschrift Nowoje Wremja (Neue Zeit), schrieb kürzlich: „Am vergangenen Sonntag aß ich abends in einem teuren Restaurant mit asiatischer Küche, gefüllte Teigtaschen mit Garnelen. Und jetzt gibt es bei mir zum Abendbrot Instantnudeln und ich schlafe in der Metro.“
Und es ist tatsächlich so: In Kriegszeiten gewöhnt man sich schnell an die einfachen Dinge. Wenn es im Supermarkt nur noch wenige Lebensmittel gibt, nimmt man eben das mit, was noch da ist. Konnte man früher zwischen 25 Pastasorten wählen, reicht jetzt die, die man noch findet. Gestern musste ich Mineralwasser mit Kohlensäure kaufen. Jetzt koche ich eben damit Tee, Kaffee und Suppe. Man schmeckt keinen Unterschied zu früher. In der Fleischabteilung lagen einige Stücke Frischfleisch und einige Kilo Tiefgekühltes.
Die Verkäuferin sagt: „Nehmen Sie alles, was da ist. Die Vorräte an Tiefkühlfleisch sind auch bald alle. Wann Nachschub kommt, ist völlig unklar.“ Während dieses Gesprächs war eine Warnung vor möglichen Luftangriffen zu hören. Alle diese Hunderte Menschen, die in der Brotschlange standen, mussten schnell irgendwo Schutz suchen. Die Angestellten des Ladens brachten alle in die Lagerräume. Die Menschen standen dort dicht an dicht. Niemand geriet in Panik, aber alle waren wütend.
Schrank vorm Fenster, Schlafen im Hausflur
„Mögen dieser Putin und Lukaschenko in der Hölle schmoren! Wie ich die satt habe! Lassen Ukrainer nicht einfach leben“, sagte eine alte Dame in der Menge, sie war sicher 75.
Eine Bekannte unserer Autorin
Kaum aus dem Laden zurück, erreicht einen die Nachricht: Das russische Verteidigungsministerium wolle die Zentrale des ukrainischen Geheimdienstes und das Telekommunikationszentrum in Kiew angreifen, angeblich, um die Ukraine am Verbreiten von Propaganda zu hindern. Erst denkt man noch „Was für ein Blödsinn“. Aber als diese Nachricht mit der Warnung schließt, die Menschen, die in der Nähe dieser Objekte leben, müssten sofort ihre Häuser verlassen, fängt man an, nervös zu werden. Eine Stunde vergeht nach dieser Meldung, nichts passiert.
Und dann schaue ich aus dem Küchenfenster und sehe, dass es direkt vor meinen Augen zwei Explosionen nahe dem Fernsehturm im Zentrum von Kiew gibt. Eine ist weit von meinem Haus entfernt, aber ich sehe sie gut. Alles ist in roten Rauch gehüllt, aber ich versuche trotzdem zu verstehen, ob der Fernsehturm noch steht, oder ob sie ihn komplett zerstört haben.
Parallel dazu entstehen in meinem Kopf Gedanken an den Fernsehturm am Alexanderplatz, den ich vom Fenster meiner Berliner Wohnung gut sehen konnte. Im Moment der Explosion bricht sofort das Fernsehprogramm ab. Einige Stunden später kommt die Meldung, dass bei dem Angriff fünf Menschen ums Leben gekommen und fünf weitere verletzt worden seien. Die Toten waren Menschen, die gerade im Park von Babyn Jar waren, der neben dem Fernsehturm liegt.
Mit Beginn der Abenddämmerung blockieren wir die Fenster in der gesamten Wohnung. Im Schlafzimmer stellen wir einen Schrank vor das Fenster und das Bett schieben wir näher in Richtung Flur. Und die Fenster des Balkons verkleiden wir mit dickem Sperrholz. All das wird uns nicht vor einem direkten Raketeneinschlag ins Haus oder vor der Druckwelle einer Explosion in der Nähe schützen, aber wenigstens schaffen wir uns so eine winzige Illusion von Schutz.
Außerdem beschließen wir, in dieser Nacht in Kiew im Hausflur zu schlafen. Unter den aktuellen Bedingungen sind alle Menschen gleich, ob es nun Akademiker, Aktivisten oder einfache Arbeiter sind. Jetzt sind alle in Gefahr.
Kurz vor Mitternacht hört man aus dem Nordwesten Kiews das Grollen von Kämpfen, und am Horizont sieht man den Widerschein der Explosionen. Gegen Morgen wird bekannt, dass ukrainische Soldaten einen Konvoi des russischen Militärs vernichtet haben, der in Richtung Kiew unterwegs war.
Die nördlichen Vororte von Kiew – Irpen, Butscha, Hostomel – liegen in Trümmern. Vor einigen Tagen wurden Satellitenaufnahmen veröffentlicht, auf denen man eine 60 Kilometer lange Kolonne von Militärfahrzeugen entlang der wichtigsten Route aus Belarus nach Kiew sehen konnte. Ungeachtet dessen, dass die Kämpfe Tag für Tag näher an die Hauptstadt heranrücken und die russische Offensive im Süden und Osten der Ukraine sich landeinwärts bewegt, melden sich immer mehr Menschen für die Territorialverteidigung.
Ebenfalls am 2. März wurde bekannt, dass sich der ukrainische Ex-Präsident Wiktor Janukowitsch, den die Ukrainer als Folge des Euro-Maidan 2014 gestürzt hatten, angeblich in Minsk aufhalte und dass der Kreml ihn als künftigen Präsidenten einsetzen wolle. Für alle Ukrainer klingt das wie ein schlechter Scherz. Es ist schwierig, einen verhassteren ukrainischen Politiker zu finden, denn gerade Janukowitsch beschuldigt man, für alle Probleme der Ukraine in den vergangenen acht Jahren verantwortlich zu sein.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
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