Leben im Ledigenheim: Die ertragreiche Verwahrlosung
Vor drei Jahren übernahm ein dänischer Investmentfonds das Ledigenheim in der Hamburger Neustadt und vermietet die frei werdenden Zimmer an Wohnungslose und Drogenabhängige. Nun steht für alten Bewohner eine Wohnform auf dem Spiel.
HAMBURG taz | Im dritten Stock zertrümmern drei Männer das schlichte Mobiliar aus den 50er Jahren – den Tisch, das Bett, den Stuhl und einen Schrank. Sie räumen so lange, bis die acht Quadratmeter leer sind und schaffen die Überreste der Möbel über den langen Flur aus dem Haus.
Auf dem Flur reiht sich Tür an Tür, die Farbe blättert von der Decke und auf dem alten Steinboden liegt eine Schmutzschicht. Ein Bewohner schlurft in Badelatschen aus seinem Zimmer, er trägt ein Handtuch unter dem Arm. Sein Blick ist finster und er verschwindet ohne ein Wort im Toiletten und Duschraum.
Das Ledigenheim in der Rehhoffstraße in der Hamburger Neustadt gilt als Markenzeichen der genossenschaftlichen Reformarchitektur Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Wohnviertel der Stadt waren damals stark überbevölkert und viele Arbeiter lebten zur Untermiete. Der Bauverein Hamburg ließ das Ledigenheim 1912 westlich des Herrengrabenfleets bauen, um diesem sogenannten Einlogier-Wesen etwas entgegenzusetzen, und vermietete die 112 kleinen Zimmer an ledige Männer. Vor allem an Hafenarbeiter, Seeleute und Arbeiter auf Montage.
Die Zimmer waren voll möbliert, es gab Zentralheizungen, warmes Wasser, pro Etage Toiletten und eine Dusche und dazu Gemeinschaftsräume. Das Konzept des Ledigenheims funktionierte bis Mitte der 1990er Jahre gut. Dann verlor das Haus den Status der Gemeinnützigkeit und musste Gewinn bringen. Der Bauverein ließ nur noch das Nötigste instandsetzen und viele Zimmer blieben leer.
Seit drei Jahren gibt es einen neuen Eigentümer, den dänischen Immobilienfonds Core Property Management. Eigentlich wollte der Investor seine Mieter loswerden und größere Eigentumswohnungen für Singles mit eigenen Bädern und Küchen bauen. Doch das zuständige Bezirksamt Mitte machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Und auch das Denkmalschutzamt ist eingeschritten und will das Haus unter Schutz stellen.
Der Investor, der sein Geld damit verdient, großstädtische Wohnimmobilien aufzukaufen, aufzuwerten und teuer weiterzuverkaufen, musste also neu planen. Nun werden die Möbel in den frei werdenden Zimmern verschrottet und die leeren Räume vermietet. Und die neuen Mieter ließ sich der Eigentümer über ein Jahr lang von der Fachstelle für Wohnungslose des Bezirks Hamburg-Mitte vermitteln. Das ist lukrativ, denn die Miete für die Menschen in schwierigen Lebenslagen werden von der öffentlichen Hand gezahlt. Aber 250 Euro Monatsmiete für karge acht Quadratmeter machten die Verantwortlichen doch irgendwann stutzig.
„Der Preis scheint für die Fläche nicht angemessen zu sein“, sagt die Sprecherin des Bezirksamts Mitte, Sorina Weiland. Mittlerweile vermittelt der Bezirk keine Mieter mehr ins Ledigenheim. Trotzdem füllt sich das Haus immer weiter.
Peter Schneider wohnt seit mehr als 40 Jahren im Haus und zahlt etwa 150 Euro für sein möbliertes Zimmer. In letzter Zeit kam es immer wieder zu handgreiflichen Auseinandersetzungen mit einigen neuen Bewohnern und er hat Angst, will seinen richtigen Namen darum nicht in der Zeitung lesen. „Es ist schlimm geworden bei uns im Haus“, sagt er. In der zweiten Etage ist schon wieder was los – ein Streit in der Küche. Erst kürzlich habe einer verzweifelt durch den Gang gerufen. „Jetzt haben wir auch einen Hardcore-Junkie auf unserer Etage“, erzählt Schneider.
Das Gebäude verwahrlose immer mehr. Bis der neue Investor das Haus übernahm, kamen täglich ein Verwalter und vier Putzkräfte – heute kommt nur noch eine. Schneider und andere langjährige Bewohner versuchen, das Haus sauber zu halten. Sammeln fast täglich den Müll auf, den einige der neuen Bewohner aus dem Fenster werfen. Die Nachbarn sollen nicht merken, was im Ledigenheim los ist.
Ein Rettungswagen und zwei Polizeiwagen fahren vor. Der Streit in der Küche ist eskaliert. Die Polizei muss hier fast jede Woche einschreiten, sagt eine Polizistin. „Erst vor kurzem ist eine neue Clique eingezogen“, sagt Schneider. Selten zieht nur ein neuer Bewohner ein, meistens holen sie andere Wohnungslose dazu und teilen sich die kleinen Zimmer. In einigen wohnen bis zu vier Personen. Eine Tür wurde eingetreten und durch das Loch sieht man das Schlaflager auf dem Fußboden.
Wenn Schneider nachts zum Klo auf seiner Etage geht, liegt ein chemischer Geruch in der Luft. Einige neue Bewohner rauchen Crack, andere spritzen sich Heroin. Die Zimmer seien doch für Auszubildende und Monteure bestens geeignet. „Es muss doch möglich sein, in Hamburg vernünftige Mieter zu finden“, sagte Schneider. Aber er weiß nicht, an wen er sich wenden soll.
Einige haben es mit einer Beschwerde bei der Hausverwaltung versucht und dafür eine Abmahnung kassiert. Der Bezirk weiß um das Problem, sieht sich aber machtlos. „Mit der sozialen Erhaltensverordnung konnten wir die Umwandlung der Räume in Eigentumswohnungen verhindern“, sagt die Bezirkssprecherin. „Damit hören unsere Einflussmöglichkeiten aber schon fast auf.“ Der Konflikt sei ein Fall für den Mieterverein.
Zwei Mietervereine sind bereits involviert. Gerade wurde ein Treffen anberaumt, um zu klären, wie der Eigentümer dazu gebracht werden kann, sich wieder mehr um das Ledigenheim und seine Bewohner zu kümmern. Im Haus hat sich eine Arbeitsgruppe formiert. Die Initiative Ros e.V. entwickelt gemeinsam mit den alten Bewohnern ein Konzept, das die alte Idee des Ledigenheims aufgreift: Das Haus soll als Männerwohnheim bestehen bleiben und zeitgemäß umgestaltet werden.
Jade Jacobs ist Mitglied einer Initiative, die seit vier Jahren Räume im Erdgeschoss gemietet haben. Für ihn sollten diejenigen, die im Haus leben, selbstverständlich auch mitentscheiden können, wer einziehen darf. „Früher wurde das Haus regelmäßig geputzt und es gab eine Reihe von Serviceleistungen“, sagt er. Die meisten vertraglich zugesicherten Leistungen, wie die Reinigung der Zimmer, der Bettwäsche und Handtücher, wurden ersatzlos gestrichen, obwohl die Bewohner dafür bezahlen.
Dabei seien diese Dienstleistungen heute notweniger denn je und sollten sogar noch um weitere Betreuungsangebote etwa in Zusammenarbeit mit anderen sozialen Einrichtungen ergänzt werden. „Ich hoffe, dass wir eine Möglichkeit finden, das Haus wieder in eine gemeinnützige und nicht profitorientierte Trägerschaft zu überführen“, sagt Jacobs. Der dänische Investor hat mittlerweile schon signalisiert, dass er sich einen Verkauf vorstellen könnte und führt Gespräche mit der Stadt.
Die Neuvermietung hatten sich die langjährigen Bewohner des Hauses anders vorgestellt. Dabei hatte sich einer von ihnen sogar dafür eingesetzt, dass Obdachlose ins Ledigenheim einziehen können. Er hat früher selbst auf der Straße gelebt und er konnte nicht verstehen, dass viele Zimmer über mehrere Jahre leer standen.
Heute sagt er, es sei ein Fehler gewesen, sich für die Obdachlosen einzusetzen. Aber er habe ja nicht gewusst, was da für Rabauken kommen und wie viele Menschen so dringend einen Schlafplatz brauchen. Als der neue Investor begann, an Wohnungslose zu vermieten, waren innerhalb weniger Tage 40 Zimmer vermietet worden – in ihnen wohnen mehr als 60 Leute.
Die Bewohner des Ledigenheims befürchten, dass sich die Situation in den Wintermonaten weiter zuspitzt. Es heißt, dass der dänische Investor die letzten freien Räume in der nächster Zeit komplett vermieten will. Anfragen der taz ignorierte der Investor. Bereits im vergangenen Winter kamen im Ledigenheim nachts viele Wohnungslose unter, wenn es kalt wird, holen die ehemaligen Obdachlosen ihre Bekannten von der Straße ins Haus.
In manchen Nächten ist es so voll, dass die Leute auf den Gängen schlafen. Schneider versteht nicht, wieso in einer Stadt wie Hamburg für Obdachlose so wenig Schlafplätze bereit stehen. „Wo sollen die Leute denn hin, wenn sie sonst auf der Straße erfrieren würden“, sagt Schneider. Nur logisch, wenn sie versuchten, irgendwo unterzukommen, und es spreche sich ja auch herum, wenn es in einem Haus in der Stadt Gemeinschaftsduschen gibt wie im Ledigenheim.
Ausziehen kommt für Schneider trotz der Probleme im Haus nicht in Frage. Es ist aussichtslos für ihn, eine bezahlbare Wohnung in der Nähe zu finden. Seine größte Sorge ist nur, dass seine langjährigen Weggefährten gehen könnten – wenn sie es im Ledigenheim nicht mehr aushalten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern