■ Aus polnischer Sicht: Le charme discret de l'interdiction
Das Schlammbuch von der parlamentarischen Edelnutte Gräfin Anastazia Potocka hat klar gemacht, daß die Abschaffung der Zensur und das garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung nicht nur erhabenen Zielen dienen kann. Schon die fantastischen Erfolge von Jerzy Urban, dem berüchtigten Zyniker, der als Propagandaminister des Kriegsrechts eine der am meisten verhaßten Gestalten des Ancien régime war, der aber als Verleger und Redakteur einer Schlammwochenzeitung, die die neuen Machthaber mit der Kirche an erster Stelle mit jedem möglichen Schmutz bewirft, haben viele konservative Politiker dazu veranlaßt, über bestimmte Ausnahmen nachzudenken, die die Verbreitung staatsfeindlicher Schriften verbieten ließen.
Das Problem liegt aber darin, daß in Polen jahrzehntelang ein oder sogar mehrere illegale „Literaturumläufe“ existierten. Nachdem alles erlaubt war, verschwand der Charme der verbotenen Früchte, und der Markt für gute Literatur – Sach- wie Plotbücher – brach zusammen. Drei „Umläufe“, der offizielle, der „unterirdische“ (politische Opposition) und der Emigrationsumlauf, schmolzen zusammen. Stattdessen tauchten neue „Umläufe“ auf, die mit der alten Gliederung in „offiziell“ und „underground“ wenig zu tun haben. Zuerst die „grauen“ Verlage, die keine Steuern und keine Autorengebühren zu bezahlen versuchten (der einfachste Trick: Man schreibt einen Übersetzerwettbewerb aus, teilt ein Buch in fünfzig kleine Abschnitte, verlangt Arbeitsproben von den Kandidaten und klebt sie dann als Buch wieder zusammen); dann die Skandalos: die „Satanischen Verse“ etwa oder das Buch von Anastazia Potocka veröffentlichen und keinen Verleger nennen, angeblich, um der – fundamentalistischen oder rechtlichen – Verfolgung zu entgehen, in er Tat aber, um die Steuer zu umgehen.
Zugegeben, der Markt ist äußerst schwierig, die Menschen haben weder Geld noch Lust, Bücher zu kaufen. Die einzige Möglichkeit, Leser zu gewinnen, besteht in der Reetablierung der Verbotssituation, eines Hauchs des Risikos, des Widerstands gegen die Obrigkeit, gegen das unterdrückende Gesetz. Auch das Fehlen des Gesetzes kann durchaus nützlich sein: Kein Recht regelt in Polen die Zulassung der Fernsehsender, im Prinzip darf man also gar nicht privat und ohne Genehmigung senden. Nichtsdestotrotz gibt es schon mehrere Piratensender, die versuchen, auf dem neu entstehenden Markt einen Vorsprung zu erreichen: Mit dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes dürften schon die Filetstücke des Marktes aufgeteilt sein.
P.S. Ich wollte das Thema schon lassen, doch die Nachricht vom Haftbefehl gegen den Richter, der im Zusammenhang mit den Möllner Morden wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung festgenommen wurde, hat mich schon erschüttert. Oder habe ich etwas durcheinandergebracht? Piotr Olszowka
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