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Berliner TagebuchLaterne, Laterne

■ Berlin vor der Befreiung: 28. April 1945

Foto: J. Chaldej / Voller Ernst

Die Werwölfe schießen. Lange werden sich das die Russen nicht gefallen lassen. In jedem Stockwerk steht eine Wache von uns. Wir möchten helfen und wissen nicht wie. Unruhig pendeln wir zwischen Keller und Boden. Niemand hat Lust, etwas anzufangen. Die Haustüren sind zugesperrt. Andrik bastelt am Radio, doch es gibt keinen Strom. „Daß wir uns keinen Detektor besorgt haben!“ flucht er. „Wir hören nichts. Wir erfahren nichts. Wie Einsiedler auf dem Berge Athos sitzen wir in unserem Käfig. Im Nachbarkeller flüstern sie sich Greuelmärchen zu. Die Russen hätten ein Geschütz verloren und über hundert Mann. Fünfzig Werwölfe steckten in der Siedlung. Fünfzig Werwölfe und ein deutscher Stab. Als ich sie frage, woher ihr Weisheit käme, schweigen sie verlegen.“ Man wird nervös, wenn man gegen unsichtbare Feinde kämpft. Es ist, als stünde jemand hinter einem. Dreht man sich aber um, ist er verschwunden.

Gegen Abend rollen neue Panzer heran. Halten an der Straßenecke und richten ihre Rohre auf uns. Verödet, mit aufgerissenen Fensterhöhlen, steht der Seitenblock. Stumm, wie ein verwunschenes Haus. Tack-tack – – – tack-tack-tack. Die Werwölfe! Wagen sie es wirklich?

Ein Dröhnen erschüttert die Luft. Der Fußboden hebt sich. Wir fliegen in eine Ecke. Granatbeschuß. Es donnert, als wäre die Hölle los. Gegen das Haustor hauen Gewehrkolben. „Jetzt kommt es richtig“, stammelt Heike. Andrik erhebt sich. Stumm sieht er uns an. Stumm geht er zur Tür. Frank wirft die Revolver hinter den Kleiderschrank. „Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne!“ Daß mir der verdammte Quatsch nicht aus dem Kopf geht! Männer schreien durcheinander. Zornig, erregt, in fremdartigen Lauten. Andrik spricht dazwischen. „Padashditje“, verstehe ich. „Warten Sie.“ Seine Stimme klingt sanft und freundlich. Er redet viel. Die anderen sind still geworden. Jetzt scheinen sie ihn etwas zu fragen. Er antwortet auf russisch. Schwere Stiefel poltern über den Flur. Russen drängen sich um ihn, hinter ihm, vor ihm, neben ihm. Sie richten ihre Pistolen auf ihn. Er schaut sie an und lächelt. Er hält die Hände in den Manteltaschen. Der einzige, der keine Waffe trägt. Ruth Andreas-Friedrich

„Der Schattenmann“ (Tagebuchaufzeichnungen von 1938 bis 1945). Suhrkamp Verlag (Frankfurt a.M.) 1984. „Schauplatz Berlin“ (Tagebuchaufzeichnungen von 1945 bis 1948). Suhrkamp Verlag 1984.

Ruth Andreas-Friedrich (1901 bis 1977), Journalistin, war Mitglied einer Widerstandsgruppe, die untergetauchte Juden versteckte.

Recherche: Jürgen Karwelat

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