Lars von Triers Nymph()maniac Vol. 2: Sexsüchtig, nicht nymphoman
Sexualität ist Selbstbehauptung wie Selbstaufgabe: In Joe, der Protagonistin von Lars von Triers „Nymph()maniac Vol. 2“, streiten beide miteinander.
Was bisher geschah: Einer jungen Frau namens Joe (Stacy Martin) ist es zuwider, ihre Lust zu zügeln und monogam zu leben. Mit Haut und Haar widmet sie sich der sexuellen Ausschweifung. Während einer Zugfahrt reißt sie mehrere Männer auf, dabei trägt sie Kleidungsstücke, die sie treffend „fuck me now clothes“ nennt.
Wenn es ihr gelingt, einem braven Ehemann im Erste-Klasse-Abteil gegen dessen anfänglichen Widerstand einen Blowjob zu verpassen, freut es sie besonders. Nacht für Nacht empfängt sie mehr als ein halbes Dutzend Liebhaber. Sorgfältig ersinnt sie eine Taktung, damit die Männer nicht übereinander stolpern.
Von alldem erzählt sie etwa 25 Jahre später, nun von Charlotte Gainsbourg verkörpert, einem älteren Mann namens Seligman (Stellan Skarsgård). Als sich die junge Joe am Ende von „Nymph()maniac Vol. 1“ schließlich in einen Mann namens Jérôme (Shia LeBoeuf) verliebt, bleibt ihr eines Nachts die Lust versagt: „Ich spüre nichts mehr“, entfährt es ihr. Einen grausameren Cliffhanger hätte sich Lars von Trier nicht ausdenken können.
Wie die Erzählungen von Joe weitergehen und ob sie zu ihrer Lust zurückfindet, das erfährt man im zweiten Teil von „Nymph()maniac“, der heute in den deutschen Kinos anläuft. Wer nun denkt, es erwarte ihn ein skandalträchtiger, unter Einsatz von Bodydoubles und Geschlechtsteilprothesen ins Pornografische gewendeter Film, der hat sich von der aufdringlichen Marketing-Kampagne an der Nase herumführen lassen.
„Nymph()maniac Vol. 2“. Regie: Lars von Trier. Mit Charlotte Gainsbourg, Stellan Skarsgård u. a. Dänemark 2013, 130 Min.
Buchhalterische SM-Handlungen
Denn „Nymph()maniac“ setzt Sexualität auf eine eher unspektakuläre, oft ins Komödiantische hinüberstreunende Weise in Szene. Dort etwa, wo sadomasochistische Handlungen stattfinden, geht es auffällig buchhalterisch zu. Hinzu kommt, dass sich der Film aus mindestens zwei Antriebskräften speist: Die körperliche Verausgabung Joes ist ein Motor, aber eine ebenso große Rolle spielen die diskursiven und narrativen Verausgabungen. Sexualität, das weiß Lars von Trier, ist nicht das dunkle Gegenüber des Diskurses, sie ist selbst Diskurs.
Und so ist „Nymph()maniac“ vor allem eine Feier des Diskurses, eine selbstreferenzielle und selbstreflexive Tour de Force durch die Kulturgeschichte, in der das Zenonische Paradox von der Schildkröte, die der schnelle Achill partout nicht überholen kann, ebenso einen Platz findet wie die Hure Babylon, die römische Nymphomanin Valeria Messalina und die geisterhafte Gabe der Elevation. Nicht zu vergessen das Bergsteigerdrama, das mit einer Bondage-Knotentechnik assoziiert wird, oder das Schisma des Jahres 1054, seit dem die katholische und die orthodoxe Kirche getrennte Wege gehen.
Leider gibt es auch rassistische Ausfälle. Zwei Sequenzen erwecken den Eindruck, das Rumpelstilzchen, das in Lars von Trier wohnt, habe die Überhand gewonnen und beharre nun auf dem vorgeblichen Recht, „Neger“ sagen zu dürfen.
Anderes ist höherer Quatsch, wieder anderes wird vom Film zunächst gesetzt und dann ausgestrichen: „Das war Ihre schwächste Abschweifung“, wirft Joe Seligman einmal vor, nachdem er mal wieder zu lange extemporiert hatte.
Blutende Klitoris
Wieder anderes dringt in die Motivkapillaren des Films vor, zum Beispiel die Kirchenspaltung. Das erste Kapitel des zweiten Teils ist mit „The Eastern and the Western Church. The Silent Duck“ überschrieben, was sich als Gestaltungsprinzip begreifen lässt: Der erste Teil mit seinen fünf Kapiteln entsprach der heiteren, fröhlichen Seite, die Seligman der orthodoxen Kirche zuschreibt, die drei Kapitel des zweiten Teils sind eher dem Leiden zugeordnet, das Seligman mit der römisch-katholischen Kirche verbindet: Es geht um Sadomasochismus, in einer schmerzlichen Sequenz um Pädophilie, schließlich um eine Klitoris, die blutet wie die Wundmale in den Handflächen Jesu.
Wer den ersten Teil von „Nymph()maniac“ gesehen hat, der kennt die Rechnung fünf plus drei; sie reinszeniert, was Joe bei ihrer Entjungferung – verzeihen Sie das Wortspiel – zustößt. Und sie wird noch einmal, viel später, wiederholt, wenn Jérôme und eine Figur namens P (Mia Goth) in einem Hinterhof Sex haben.
Der Wiederholungszwang, an dem Joe leidet, hallt in Lars von Triers eigenen Wiederholungszwängen nach – etwa wenn der Regisseur eine Szene aus „Antichrist“, das in Schwarzweiß gehaltene Präludium, in dessen Verlauf ein Kleinkind aus dem Fenster stürzt, in „Nymph()maniac“ leicht variiert wiederholt.
Wenn dieser mäandernde Film überhaupt so etwas wie ein Zentrum hat, dann ist es sicherlich die Frage nach Zwang und Freiheit und dem dialektischen Verhältnis von beidem. Auf den ersten Blick ist das, was sich Joe herausnimmt, nämlich als Frau einen eigenen Platz im Reich der Sinne zu beanspruchen, seit der sexuellen Revolution und der zweiten Frauenbewegung eine Selbstverständlichkeit. Warum bloß quält sie sich dann so? Warum leidet sie an Schuldgefühlen? Ihr Gegenüber, Seligman, spricht es am Ende sogar aus: Wäre Joe ein Mann, kein Mensch – sie selbst am wenigsten – hätte sich an ihrem Verhalten gestört.
Der blinde Fleck
Vielleicht ist es aber gar nicht so einfach und klar, vielleicht bleibt eine nicht zu stillende Unruhe, und daran haben weder das Vordringen der Pornografie ins Arthouse-Kino etwas geändert, an der Lars von Trier selbst teilhatte, indem er 1998 in „Idioten“ echten Sex filmte, noch das Aufkommen des Internets mit der dazugehörigen Präsenz expliziter Bilder noch die Entzauberung der Sexualität durch Dating-Portale, durch die eine sexuelle Begegnung ähnlich leicht zu haben ist wie eine Stunde Wirbelsäulengymnastik, sodass die eine von der anderen Reproduktionsarbeit kaum noch zu unterscheiden ist.
Vielleicht ist da noch etwas anderes, ein Residuum, das daher rührt, dass die aufgeklärte Gegenwart den einen oder anderen blinden Fleck hat. Die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen hat es einmal so formuliert: „Die Anforderung, die unsere Sexualität an uns stellt, besteht darin, dass wir sowohl bemächtigt wie auch ohnmächtig sind, ebenso von einem auf Selbsterhaltung gerichteten Lustprinzip geleitet wie von einem Drang nach Selbstverschwendung.“ Sexualität hat etwas mit Lust zu tun, aber auch mit Selbstverlust, sie ist zu gleichen Teilen Selbstbehauptung wie Selbstaufgabe. In Joe streitet beides miteinander, ohne je Ruhe zu geben.
Das geschieht zum Beispiel so: Im mittleren Kapitel des Films – es ist mit „The Mirror“ überschrieben – geht Joe zu einer Selbsthilfegruppe, um ihre Fixierung auf Sex zu überwinden. Ein halbes Dutzend Frauen treffen sich in einer Mehrzweckhalle, der wie so vielen Räumen in „Nymph()maniac“ etwas Nüchternes und Zeitloses eignet. Die Frauen sitzen im Stuhlkreis, Joe sagt: „Mein Name ist Joe, und ich bin Nymphomanin.“ Ohne Umschweife wird sie korrigiert: „Sexsüchtig. Wir nennen es ’sexsüchtig‘.“
Eine Sprechweise, die das Anstößige und einen Überrest des 19. Jahrhunderts in sich bewahrt, wird in diesem Augenblick mit einer Sprechweise konfrontiert, die das Anstößige in einen therapeutischen Diskurs überführt, es dadurch einfängt und kontrollierbar macht. Es dauert nicht lange, bis Joe den geduckt dasitzenden Frauen entgegenschleudert: „Ich liebe meine Möse. Und ich liebe meine dreckige, schmutzige Lust.“
Nur ein vorläufiges Ende
Aber auch das ist nicht der letzte Satz des Films, nicht der Fluchtpunkt, im Gegenteil, man kann sich sicher sein, dass mit dieser stolzen Geste der Selbstbehauptung kein Problem gelöst ist. Was uns im Publikum nicht weiter stören muss, sorgt doch die Nichtaufhebbarkeit von Joes Leiden für ein Immer-weiter der Erzählung, die mit der Schwarzblende am Schluss nur zu einem vorläufigen Ende kommt. Unter anderem, weil es noch eine Langfassung von „Nymp()maniac Vol. 2“ gibt, die irgendwann, spätestens mit der DVD-Edition, zu sehen sein wird.
Lars von Triers Motoren laufen also weiter. Und ganz anders als in gewöhnlicher Pornografie, deren Ziel im immer gleichen Cumshot besteht, schenkt uns das einen wunderbar polymorphen Film.
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