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Landesvorsitzende der Berliner Grünen„Es ist doch unsere Stärke, dass wir nicht vereinfachen“

Weniger Scheindebatten und Politik gemeinschaftlich entwickeln: Darauf setzen Berlins Grünen-Chef*innen nach den jüngsten Misserfolgen ihrer Partei.

Wollen bald wieder regieren: Berlins Grüne-Landesvorsitzende Philmon Ghirmai und Nina Stahr (von links) Foto: Miriam Klingl

taz: „Bündnis90/Der Robert“ hat die taz jüngst Ihren Parteinamen aktuell angepasst. Spricht da aus Ihrer Sicht etwas dagegen? Alles auf Habeck als Kanzlerkandidaten zu setzen, erscheint wie die einzige und größte Chance der Grünen.

Nina Stahr: Ich glaube, dass er der Richtige ist, um uns in die Bundestagswahl zu führen. Und ja, Menschen verkörpern natürlich immer ein Stück weit die Partei und ihre Werte, das kann man auch gar nicht komplett trennen. Aber ich würde auch die SPD nicht „die Scholz-Partei“ nennen, nur weil Olaf Scholz vorne steht.

taz: Als Wahlkampfmanager ist Andreas Audretsch aus Neukölln im Gespräch. Doch wie soll ein Parteilinker einen Wahlkampf konzipieren, bei dem Habeck offenbar Wähler bis tief ins bürgerliche Lager ansprechen will? Oder soll er das gar nicht?

Philmon Ghirmai: Wir führen in unserer Partei derzeit intensive Debatten, und das wird sicherlich auch beim Bundesparteitag im November in Wiesbaden so sein. Unsere Partei bewegen gerade viele Fragen, etwa bezüglich der sozialen Gerechtigkeit in diesem Land, bezüglich des Klimaschutzes und der menschenrechtsbasierten Migrationspolitik. Die werden wir in Wiesbaden diskutieren müssen, am Ende werden wir einen Kandidaten haben, der uns mit unserem Programm im Gepäck in die Bundestagswahl führen wird.

Im Interview: Grüner Landesvorstand

Nina Stahr, 41, aus dem Kreisverband Steglitz-Zehlendorf (Realo-Flügel), war bereits von 2016 bis 2021 Co-Landeschefin der Berliner Grünen und kehrte Ende 2023 in dieses Amt zurück.

Philmon Ghirmai, 40, ist seit 2021 Co-Landesvorsitzender der Berliner Grünen. Davor war er Sprecher des Kreisverbands Neukölln, der zum linken Flügel des Landesverbands gehört.

taz: Den Begriff der Beinfreiheit hören die Grünen nicht gern. Aber ist es nicht konsequent, die einem Kanzlerkandidaten auch zu geben – wenn man schon einen aufstellt?

Stahr: Es ist nicht so, dass wir den Begriff „Beinfreiheit“ ungern hören – aber unsere Leute machen Politik auf Basis unseres Programms. Deswegen kann ich auch Ihre Frage zu Andreas Audretsch und Robert Habeck überhaupt nicht nachvollziehen: Das sind beides Grüne, die derzeit umsetzen, was wir im letzten Wahlprogramm beschlossen haben, was wir dann im Koalitionsvertrag verankert haben. Der eine in der Regierung, der andere in der Fraktion. Und das, wie ich finde, in einer extrem guten Zusammenarbeit. Beinfreiheit ist etwas, was man vor allem dann braucht, wenn man etwas anderes möchte als die Partei.

Ghirmai: Im Kern wird es immer darum gehen, gemeinsam ein grünes Paket auf den Tisch zu legen. Wir stehen vor großen Gerechtigkeitsfragen, über die wir als Gesellschaft aber auch als Partei dringend sprechen müssen. Der Klimaschutz muss sozial ausgestaltet, das Leben wieder bezahlbar sein. Die Schuldenbremse kann in dieser Form nicht bestehen bleiben und es muss endlich offen über die Lastenverteilung in unserer Gesellschaft, die Einführung einer Milliardärssteuer und Vermögensteuer gesprochen werden. Die Person, die vorne steht, wird dann das Programm verkörpern müssen.

taz: Brandenburgs grüne Ministerin Nonnemacher hat jüngst gesagt: „Die Grünen haben das Problem, dass sie kopflastig und in vielem zu kompliziert sind.“ Sie meint auch, die Partei hätte in der Vermittlung „deutliche Probleme“.

Stahr: Dass wir zu kopflastig sind, das können wir an der einen oder anderen Stelle unterschreiben. Aber die Probleme, vor denen wir stehen, sind eben auch komplex, und die Herausforderung ist, sie so anzugehen, dass die Menschen im Land sich mitgenommen fühlen.

taz: Bei dieser Vermittlung aber hapert es laut Nonnemacher – und die dürfte es nach vielen Partei-, Parlaments- und Ministerinnenjahren schließlich wissen.

Stahr: Ich habe tatsächlich ein Problem mit der Aussage, dass wir die Sachen bloß nicht richtig vermittelt bekommen. Man muss sich nämlich auch mal selbstkritisch fragen, ob wir in den vergangenen Monaten die richtigen Schwerpunkte gesetzt haben. Zum Beispiel war es einfach zu wenig, nur gegen die AfD zu sein, statt klar zu sagen, wofür wir stehen. Die Menschen müssen wissen: eine Stimme für grün ist eine Stimme für Klimaschutz, Transformation der Wirtschaft, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit.

Ghirmai: Es ist doch eine unserer Stärken, dass wir nicht vereinfachen. Das sollten sich alle Parteien mehr zu Herzen nehmen und weniger Scheindebatten führen

taz: Als den Grünen jüngst die Spitze ihres Jugendverbands abhandenkam, hat Ihre Parteifreundin Renate Künast das nicht groß bedauert: Deren Vorstand sei „nicht realitätstauglich“ gewesen. Hat sie recht?

Ghirmai: Ich glaube, wir müssen es ernst nehmen, wenn sich ein Teil der Grünen Jugend in der Mutterpartei nicht mehr wiedergefunden hat. Wir haben vorhin selbst über Weichenstellungen gesprochen, von denen wir glauben, dass sie vorgenommen werden müssen, und begrüßen beide ausdrücklich, dass die große Mehrheit die Grünen nicht verlassen hat und sich weiter einbringen möchte.

Stahr: Auch die Berliner Co-Vorsitzende Leonie Wingerath ist geblieben, sie ist zum Beispiel eine total wichtige Ansprechpartnerin für mich. Natürlich sind wir uns nicht immer einig. Aber ich bin trotzdem total dankbar für den guten Austausch – wie soll ich sonst wissen, was junge Menschen bewegt? In die neue Shell-Jugendstudie zu gucken ist zwar interessant, aber das reicht nicht – es braucht direkten, ehrlichen Austausch auf Augenhöhe, echtes Zuhören und Ernstnehmen. Dabei geht es nicht darum, am Ende unbedingt einer Meinung zu sein – ich bin über 40, wenn die immer so denken würden wie ich, dann würde ich mir Sorgen machen.

taz: Fassen wir mal zusammen, was wir beredet haben: die Grüne Jugend dezimiert, Habeck-Debatte, Nachbar-Grüne aus dem Landtag raus und Sie selbst in der Opposition – welcher Begriff beschreibt diesen Zustand am besten?

Ghirmai: Ich würde sagen: Partei in Bewegung.

Stahr. Ich meine: Aufbruchstimmung. Wir haben jetzt die Chance auf einen Neuanfang. Die gilt es zu nutzen.

Ghirmai: Ich finde es normal, dass man in Zeiten multipler Krisen innehält und sich fragt: Funktionieren unsere bisherigen Antworten darauf noch? Alle Parteien müssen sich fragen, ob sie wirklich die drängenden Gerechtigkeitsfragen adressieren oder nur populistische Spielchen betreiben. Der Bundesvorstand hat uns mit seinem Rücktritt die Möglichkeit dazu gegeben, uns inhaltlich und strategisch neu auszurichten und im Bund wieder in die Offensive zu kommen.

taz: Ihre Oppositionszeit könnte 2026 beendet sein: CDU-Chef Kai Wegner lobt etwa bei der Verwaltungsreform auffällig oft die Grünen. Richtung aktuellem Koalitionspartner SPD klingt er nicht so nett.

Ghirmai: Wir als Grüne haben uns in der Vergangenheit nie davor gedrückt, Verantwortung zu übernehmen, in den Bezirken wie auf Landesebene. Wir wollen Konzepte nicht nur entwickeln, wir wollen sie auch in der Regierung umsetzen. Das heißt, wir bereiten uns darauf vor, ab 2026 im Land Berlin wieder Verantwortung zu übernehmen.

taz: Allein wird das nicht gehen – wie empfinden Sie das Lob von Wegner, der ja schon länger von Schwarz-Grün schwärmt?

Stahr: Wir werden jetzt hier zwei Jahre vor der Wahl keine Koalitionsdebatten führen. Wir werden unser Programm schreiben, auf Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit setzen und dann schauen wir, mit wem wir das umsetzen können.

taz: Wobei Sie, Frau Stahr, vorher zurück in den Bundestag wollen bei der Wahl 2025. Dann braucht der Landesverband wieder eine neue Chefin, weil laut Satzung anders als auf Bundesebene Amt und Mandat unvereinbar sind. Ist es nicht Zeit, das zu ändern?

Stahr: Wir haben die Debatte ja angesichts meiner Person schon geführt, als ich im Dezember wieder Landesvorsitzende wurde und noch im Bundestag war. Grundsätzlich finde ich es unklug, solche Debatten anhand aktueller Personalfragen zu führen. Deshalb habe ich damals klar gesagt, dass ich das nur übergangsweise in dieser Doppelrolle mache und diese Regel als Landesvorsitzende nicht infrage stellen möchte. Das hat sich dann ja mit der Wiederholungswahl im Februar ohnehin erledigt.

Ghirmai: Ich finde es unabhängig von Personen und Konstellationen grundsätzlich sehr gut, wenn Verbände Verantwortung auf mehrere Schultern verteilen. Umgekehrt gibt es ja Beispiele in anderen Parteien, wo sich alles auf eine Person konzentriert.

taz: In Berlin am meisten bei der CDU: Kai Wegner ist nicht nur Regierungschef, sondern auch Parteivorsitzender und Mitglied im Abgeordnetenhaus.

Ghirmai: Das erschwert eine politische Willensbildung in der Partei und birgt die Gefahr, dass schlicht die Regierungspolitik durchgestellt wird. Das funktioniert in unserer Partei nicht. Es ist eine unserer Stärken, dass wir unsere Politik gemeinschaftlich entwickeln.

taz: Auf Bundesebene aber sind die bisherigen Grünen-Chefs Bundestagsmitglieder, und bei ihren mutmaßlichen Nachfolgern ist das nicht anders.

Ghirmai: Ohne ihre Arbeit im Parlament mindern zu wollen: In Erscheinung getreten sind sie als Parteivorsitzende.

taz: Nach Ihrem ins Chaos abgedrifteten Landesparteitag Ende 2023 tat sich eine große Kluft im Landesverband auf. Und jetzt? Alles schon bereinigt?

Ghirmai: Wir haben viele Gespräche geführt, unsere Beschwerdestruktur angeschaut und verbessert, und wir erleben eine Partei, die in sehr konstruktiver Zusammenarbeit ist. Für uns gilt, was für alle gelten sollte: Die politischen Zeiten sind zu ernst, als dass man in breiter Selbstbeschäftigung verweilen könnte.

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