Landesfürsorgeverband Oldenburg im NS: Verhungernlassen für den Profit
Im NS vernachlässigte der Landesfürsorgeverband Oldenburg Patient*innen, um sich zu bereichern. Herausgefunden hat das der Historiker Ingo Harms.
Was ihn schockiert: Er hat seinem Kind eigens Lebensmittelpakete geschickt. Außerdem gehört er als sogenannter Selbstzahler zu denen, die für die Unterbringung eines Angehörigen aufkommen. Zum Glück belässt es der Vater nicht bei dieser Beschwerde: Zwölf Tage später holt er seinen Sohn zu sich zurück, der damit nicht zu den am Ende rund 1.500 sogenannten Oldenburger Hungertoten gehören wird.
Sie starben, weil man sie über lange Zeiträume nicht ausreichend ernährte; weil man ihnen den Speiseplan einschränkte und Lebensmittelpakete von Angehörigen einbehielt. Sie starben, weil in vielen Räumen, in denen die pflegebedürftigen Menschen untergebracht waren, die Raumtemperatur zuweilen erheblich heruntergesetzt wurde, um Heizkosten zu sparen und sie so körperlich geschwächt sich auch der grassierenden Krankheiten kaum erwehren konnten.
Herrmann N.s Geschichte ist Teil der Studie „Der Verband – Anstaltsfürsorge zwischen Rassenhygiene, Bereicherung und Kommunalpolitik (Oldenburg 1924–1960)“. Der Historiker Ingo Harms und sein Team sind immer wieder auf drei Einrichtungen gestoßen: die Heil- und Pflegeanstalt Wehnen, die heutige Karl-Jaspers-Klinik Wehnen; dann das Gertrudenheim in Oldenburg und schließlich das Pflegeheim Kloster Blankenburg, das heute als Erstaufnahme für Geflüchtete dient. Alle drei sind bereits je für sich auf ihre NS-Geschichte hin untersucht worden.
Ingo Harms: Der Verband. Anstaltsfürsorge zwischen Rassenhygiene, Bereicherung und Kommunalpolitik (Oldenburg 1924–1960); Weinheim Basel, Beltz Juventa 2022, 498 S., E-Book inklusive, 58 Euro.
Allerdings blieb bisher die Geschichte eines Akteurs weitgehend unbeachtet: die des übergeordneten, 1924 gegründeten „Landesfürsorgeverbandes Oldenburg“, dessen bestimmender Einfluss sich nicht nur auf die kommunale Sozial- und Gesundheitspolitik im Oldenburger Land erstreckte, sondern auch auf die Kultur- und Wirtschaftspolitik bis hinein in den Energiesektor wirkte. Es ist die Geschichte vom Weg einer nahezu klassischen Fürsorgeeinrichtung, zunächst entsprechend karikativ an- wie ausgelegt, die sich dann zu einer Wirtschaftsinstitution entwickelt, auf die Ingo Harms seinen Schwerpunkt legt.
Harms, lange tätig an der ‚Forschungsstelle Geschichte der Gesundheits- und Sozialpolitik der Universität Oldenburg‘, stellte sich die erkenntnisleitende Frage: Warum stieg der Verband zu einem ökonomisch erfolgreichen lokalen Wirtschaftsakteur nicht schon in der Weimarer Republik auf oder hernach in den Anfangsjahren der Nachkriegs-BRD, sondern ausgerechnet während der NS-Diktatur und somit bald unter den Bedingungen einer Kriegswirtschaft?
Aufgabe und Ziel des Verbandes, das arbeitet Harms immer wieder heraus, war nicht die Senkung von Betriebskosten, auch weit weniger als vermutet der „Euthanasie“-Gedanke der Nationalsozialisten, sondern die offensive Vermögensbildung: „Die Vernachlässigung der Patienten war nicht die Folge, sondern die Voraussetzung für die Vermögensbildung“, so seine zentrale These. Als im Mai 1945 das NS-Regime endet, steht der Verband denn auch solide dar: Er verfügt nicht nur über Grundstücke und Immobilien wie etwa drei landwirtschaftliche Betriebe, sondern auch über Barvermögen, Kapitalbeteiligungen und Stiftungskapital.
Die Studie ist in ihrer Komplexität und Beharrlichkeit auch das Ergebnis einer Forscherlaufbahn: „Generell ist es so, wenn man sich als Historiker oder als Künstler mit den Schrecken der NS-Zeit beschäftigt, kann man das nicht lange machen, ohne sich eine professionelle Distanz anzueignen. Diesen Weg vom ersten Entsetzen über die Erarbeitung einer wissenschaftlichen Distanz bin ich auch gegangen, um andere Aspekte als die Opferaspekte zu sehen – und so bin ich auf die monetär-ökonomische Seite der Geschichte gestoßen“, so Harms.
Hermann-Ehlers-Str. 7, Bad Zwischenahn; Di–Fr: 10–16 Uhr, So: 12–16 Uhr. Öffentliche Führung am 25. 8., 16 Uhr, Anmeldung erforderlich per E-Mail an buero@gedenkkreis.de oder telefonisch unter ☎ (04 41) 99 92 770. Infos: www.gedenkkreis.de
Dabei stießen seine Forschungen immer wieder auf Gegenwehr: „Widerstand war vom ersten Tag an da.“ Die für die Erforschung wichtige Anstalt Wehnen etwa wurde erst kraft einer Dienstanweisung des Niedersächsischen Sozialministeriums zu einer Art Mitarbeit bewegt. Zugleich profitierte Harms von einem besonderen Umstand: „Ich hatte den Schlüssel zum Privatarchiv des Verbandes und konnte über zehn Jahre lang in aller Ruhe die dortigen Archivalien erforschen. So kamen der sachliche und der ungehinderte Blick zusammen.“
Die Erforschung von Haushaltsplänen, Bilanzen, Jahresabrechnungen sowie Personal- und Verwaltungsakten machte es auch möglich, den Blick auf scheinbar entfernte Tätigkeitsfelder des Verbandes zu lenken. Etwa das Museumsdorf Cloppenburg, damals fest eingebunden in die völkische-bäuerliche Propaganda, wollte man doch so die im Katholizismus verwurzelten Bauern für sich gewinnen. Als das Museum im Laufe des Krieges auf einen Konkurs zusteuert, wird es in den Verband eingegliedert, so wieder auf die Beine gestellt und beispielsweise 1944 mit 93.000 Reichsmark gefördert.
Auch das städtische Oldenburger Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte profitierte: Es erhielt beträchtliche Mittel zum Ankauf von Exponaten. Auch regionale Fleischmehlfabriken erhielten Zuwendungen aus dem Etat des Verbandes, gleichfalls die 1940 gegründete Ferngas Weser-Ems GmbH, die mit der Summe von zwei Millionen Reichsmark ausgestattet wurde. „Als ich auf die entsprechenden Akten stieß, habe ich selbst gestaunt“, sagt Harms. „Der Konzern, der damals in seiner Gründungsphase profitierte, ist heute als EWE der fünftgrößte Energieversorger.“
Bei den Internetauftritten der genannten Institutionen wird man zum Thema kaum fündig. „Der heutige Bezirksverband Oldenburg hat sich im Laufe der Jahrzehnte zu einer modernen, effizienten Verwaltungseinheit entwickelt“, lässt der Nachfolger des einstigen Landesfürsorgeverbands unter dem Schlagwort ‚Historie‘ wissen – und nicht viel mehr. Ganz so, als gäbe es die Studie nicht.
Ingo Harms und seine MitstreiterInnen dagegen haben parallel und gemeinsam mit Angehörigen ehemaliger Opfer 2004 einen Gedenkort gegründet: im Gebäude der ehemaligen Pathologie, in die einst auch die Opfer des Hungerterrors verbracht wurden, bevor man sie beerdigte.
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