Läuterung eines Radikalen: Er hatte nur den Koran
Izzedin Ocakci war ein Islamist. Dann kam Herr Mücke und half ihm, seinen Hass zu überwinden. Das Anti-Gewalt-Programm steht jetzt vor dem Aus.
Für ihn gibt es viele sinnliche Freuden im Jenseits. Denn die wahren Gläubigen dürfen für ewig in die „Gärten der Wonne“, so steht es im Koran. Es fließen „Ströme von Wasser, Milch, Wein und Honig“, die Verstorbenen tragen Gewänder aus Brokat. Izzedin Ocakci weiß, dass auf ihn jungfräuliche Frauen warten. Doch auf dem Weg dorthin gab es für ihn eine entscheidende Hürde.
Der Deutschtürke musste erst mal aus dem Gefängnis in Hameln raus, indem er wegen Körperverletzung und Raubes einsaß. Und er musste seine „Sünden“ wiedergutmachen, um überhaupt in den Garten Eden vorgelassen zu werden. „Also kapselte ich mich von meinen Mitinsassen ab und las den ganzen Tag den Koran“, sagt der heute 27-Jährige, der in Braunschweig lebt.
Das war 2007, und damals sei er dabei gewesen, ein radikaler Islamist zu werden. „Mein Leben war ruiniert, ich fühlte mich allein und suchte einen Halt“, so Izzedin Ocakci. Damals trug er einen langen Bart, einen bis zum Boden reichenden Kaftan und eine Gebetsmütze.
Er kleidete sich so, dass sein Glauben für jeden sichtbar war. „Ich wurde immer radikaler“, sagt der mollige dunkelhaarige Mann mit der Stupsnase und den auffällig langen Wimpern, der zwar nichts dagegen hat, dass sein richtiger Name genannt wird, nur ein Foto von sich in der Zeitung möchte er nicht sehen.
Seine Eltern kamen 1989 nach Deutschland. Der Vater arbeitete unregelmäßig, die Mutter war Hausfrau, die neun Kinder wurden so ganz nebenbei erzogen. Zwar seien seine Eltern gläubig gewesen, aber nicht militant. Der Vater schlug zu, wenn ihm etwas nicht passte – und ihm passte oft etwas nicht. Izzedin Ocakci habe immer nur zu hören bekommen, er sei „dumm, dumm, dumm“. Und weil er seinem Vater glaubte, habe er ihn auch nie kritisiert oder sich gar aufgelehnt. „Ich hätte niemals gewagt, etwas Schlechtes über meinen Vater zu sagen. Auch wenn er etwas Falsches gemacht hat, habe ich ihn beschützt“.
Das Leben aushalten
Er hat keinen Schulabschluss, keine Lehre, er hatte überhaupt keine Perspektive in seinem Leben. Die einzige Konstante war sein prügelnder Vater, Deutschland wurde zum Feindesland, er sucht etwas, das ihm Selbstbewusstsein geben konnte, und verschaffte sich das, was er wollte, mit Gewalt.
So wurde er 2003 verurteilt, erst 2007 kam er in Haft. Und Izzedin Ocakci war noch kein Stück weiter, auf seinem Weg ins Paradies. Im Gegenteil: Sein Islam war irgendwann nicht mehr nur ein Glauben, sondern auch eine politische Ideologie. Der Koran habe ihm endlich Halt gegeben, sagt er. Es gab Regeln, an denen er sich orientieren konnte. Im Glauben fand er die Wärme, die ihm sonst niemand gab. Er sei dabei gewesen abzudriften, ein Terrorist zu werden, sagt er.
Warum hat er sich von Deutschland abgewandt? Warum wollte er sich dem radikalen Islam anschließen? Weil er sich einfach nie irgendwo zugehörig gefühlt habe: „Draußen war ich der Ausländer, zu Hause der Dumme. Ich habe gedacht, die ganze Gesellschaft hat etwas gegen mich und den Islam, die ganze Welt ist gegen mich“, sagt er. Sein Vater habe ihm beigebracht, dass er für seine Ehre töten und sterben muss.
„Es hätte gereicht, wenn mich jemand in eine falsche Richtung gelenkt hätte“, sagt er. „Dann wäre ich zum Islamisten geworden, ich hätte für meinen Glauben gemordet. Ich war so durcheinander, ich habe jemanden gesucht, der mir sagt, wo es langgeht“, blickt er zurück, und solch jemand fand er im Knast bei einem Antigewaltprogramm. „Verantwortung übernehmen – Abschied von Hass und Gewalt“ heißt das Seminar des Vereins Violence Prevention Network (VPN), das sich an rechtsextremistisch oder islamistisch orientierte Gewalttäter richtet.
Gemeinsam mit einem Sozialarbeiter und einem Imam sollen die Männer lernen, ihren Hass aufzugeben. „Herr Mücke war der einzige Mensch, der mir zugehört hat, der mich nicht sofort verurteilt hat und Ahnung vom Islam hatte“, so Izzedin Ocakci. „Allah hat mir diesen Menschen geschickt. Herr Mücke hat mir mein Leben gerettet“, sagt er immer wieder.
Abschied von Gewalt
Sein „Lebensrettter“ Thomas Mücke mag nicht als solcher bezeichnet werden. „Ich habe Izzedin in seinem Umdenkprozess unterstützt“, sagt der Sozialarbeiter in seinem Berliner Büro. „Den Großteil hat er ganz allein geschafft.“ Wichtig sei es, den Männern nicht ihren Glauben ausreden zu wollen, sondern diesen nur kritisch zu hinterfragen, sagt Mücke.
Mehr als 700 Straftäter haben bisher an dem Training teilgenommen, in einem Stabilisierungscoaching können sich die Männer auch nach der Entlassung an einen Sozialarbeiter wenden. Eine unabhängige Studie kam zu dem Ergebnis, dass durch die Präventivarbeit die Reinhaftierungsquote um 70 Prozent gesenkt wird.
Doch trotz des Erfolgs wird das Programm Ende des Jahres eingestellt. Bund, Länder und Kommunen streiten über die Finanzierung, schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Bislang wurde es vor allem durch die EU gefördert, nach zehn Jahren laufen nun die Gelder aus, was bei Modellprojekten in Deutschland üblich ist.
Zwar lobte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich das Programm, doch zahlen will er dafür nicht. Das Innenministerium schiebt die Zuständigkeit auf das Justizministerium, die zuständige Justizministerkonferenz reagiert nicht auf taz-Anfragen. „Es besteht jedoch Einigkeit, dass es sinnvoll und notwendig ist, entsprechende Programme langfristig zu unterstützen“, heißt es aus dem Bundesinnenministerium.
Männer wie Izzedin Ocakci sind ein Sicherheitsrisiko. Sie gehören zu einer Gruppe, die von Sicherheitsbehörden „homegrown terrorist“ genannt werden: aufgewachsen in einem westlichen Land, mit nur noch losen Kontakten in die Herkunftsländer ihrer Eltern, sozial integriert. Die 2009 gefasste Sauerland-Gruppe gilt als erster Fall von islamistischem „homegrown terrorism“ hierzulande.
„Deutschland ist nach wie vor Anschlagsziel islamistischer Terroristen“, sagte Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes im Juni. Rund 1.000 Personen aus der islamistischen Bewegung würden als gefährlich eingestuft. Etwa 130 Islamisten würden zum Teil rund um die Uhr bewacht. Eine besondere Bedrohung gehe von Einzeltätern aus. Von solchen Männern wie Izzedin Ocakci. Damals.
Nach der Entlassung aus dem Gefängnis hat Izzedin Ocakci seinen eigenen Imbiss eröffnet und arbeitet nebenbei auch als Trainer für VPN. Er geht in die Gefängnisse, spricht mit jungen inhaftierten Muslimen über Ehrenmorde, falsche Ehrbegriffe und Islamismus. „Wir dürfen nicht hassen, was Gott erschaffen hat, auch keine Andersgläubigen“, versucht er ihnen beizubringen. „Im Grundgesetz steht doch genau das, was der Islam auch fordert: nicht stehlen und nicht töten.“
Seine Mutter hat es mit der Unterstützung ihrer Söhne geschafft, sich von dem gewalttätigen Ehemann zu trennen. Izzedin Ocakci sagt, er habe lange gebraucht, bis er über all das sprechen konnte: „Alles, was wehtut, will man am besten vergessen“, sagt er und schiebt hinterher: „Bevor Herr Mücke kam, wusste ich nicht, was ist richtig, was ist falsch.“
Politik will nicht zahlen
Wegen seiner Straftaten sollte er in die Türkei abgeschoben werden, eine Härtefallkomission konnte das verhindern. Heute ist der Islam für ihn keine Kriegserklärung mehr, sondern eine Religion des Friedens.
Was ihn sicher macht, dass er in einer verzweifelten Situation doch zu einem Radikalen wird? „Heute weiß ich, dass nicht jeder was gegen den Islam hat. Dass uns Muslime nicht jeder hasst, dass nicht jeder mich hasst“, sagt er und betont erneut, dass ihn das Aussteigerprogramm geholfen habe. Dass es dieses bald nicht mehr geben soll, kann der junge Mann nicht verstehen. „Denn im Gefängnis finden sich genug junge Muslime, die man manipulieren und radikalisieren kann.“
Innenminister Friedrich forderte nach dem Terroranschlag in Boston wieder, die Videoüberwachung auszuweiten, was wohl Millionen von Euro kosten würde. Das Gefängnisprojekt gegen Extremismus dagegen würde eine Million Euro kosten. Der Aussteiger Izzedin Ocakci ist kürzlich Vater geworden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos