LIEBESERKLÄRUNG: Toni Erdmann
Wenn alle etwas lieben, das einem selbst nicht mal gefällt: Dann ist man plötzlich ganz schön auf sich zurückgeworfen
Der Mensch des 21. Jahrhunderts ist nie allein und immer einsam. Am Ende eines durchschnittlichen Tages hat die durchschnittliche Internetnutzerin mit einer kleinen Turnhalle voll Menschen interagiert, per Mail, Twitter, Whatsapp, hat geliket, geforwardet und – man munkelt – sogar telefoniert, ist aber niemandem wirklich näher gekommen. Zum Glück kommt hin und wieder so ein popkultureller Hype, der gleich einer Gerölllawine alles und alle mitreißt. Für kurze Zeit schwimmt man dann auf einer Welle, wo alle sich lieb haben – es sei denn, man bleibt außen vor. Erst gestern ist es wieder passiert.
Da standen sie alle zusammen und sprachen über „Toni Erdmann“ – und wie begeistert sie sind. Ich blieb allein am Rand stehen. Es war nicht das erste Mal. Falls es irgendjemand tatsächlich noch nicht weiß: „Toni Erdmann“ ist ein zweieinhalbstündiger deutscher Film über Menschen, die viel arbeiten und wenig reden. Alle finden ihn toll, wirklich alle. Sogar die Menschen in Amerika, die haben ihn gerade für einen Oscar nominiert.
Ich hingegen erinnere mich an flache Charaktere, die im Laufe der Geschichte nicht komplexer werden, sondern nur nackter. An eine Aneinanderreihung der immergleichen Szene, in der ein tattriger Herr mit Perücke eine Gruppe von Business-casual-Leuten ohne Persönlichkeit aufmischt. Nach ein paar dieser Szenen hätte ich mir lieber ein Tablett voll mit spermagarnierten Petits Fours reingefahren als noch mehr von dem Film. Ging natürlich nicht, weil man nicht so einfach aus dem allergefeiertsten Film der Welt rausgeht.
Oder doch? „Toni Erdmann“ nicht zu mögen ist eine radikal vereinzelnde Erfahrung. Man kann so viel forwarden und liken, wie man möchte – manchmal ist man ganz auf sich zurückgeworfen. Da verschwört sich das ganze Universum gegen einen. Respektive der Kulturbetrieb. Das muss man aushalten können. Habe ich am Ende doch etwas gelernt durch „Toni Erdmann“? Ich bin bereit, das einzusehen. Aber bitte, bitte, macht doch die Filme künftig nicht so lang!
Peter Weissenburger
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen