piwik no script img

Kurzgeschichte aus der HaftanstaltGrüß mir die dunklen Augen

Der HDP-Ko-Vorsitzende Selahattin Demirtaş befindet sich seit viereinhalb Monaten in Haft. Er schreibt dort Kurzgeschichten. Dies ist die Neueste.

Selahattin Demirtaş im Juni 2015. Foto: dpa

Es war sechs Uhr morgens, als der Wecker klingelte. Hüseyin stellte ihn aus und kletterte aus der oberen Etage des Kajütenbetts herab. Auf dem Weg nach unten stieß er den eine Etage unter ihm schlafenden Cemal mit dem Fuß an.

Cemal und Hüseyin waren Freunde seit ihrer Kindheit. Sie kamen aus dem gleichen Dorf. Bis zur dritten Grundschulklasse waren sie Schulkameraden. Dann gab Hüseyin die Schule auf, Cemal machte noch die Vierte fertig. Wenn er Hüseyin ab und an wie einen ungebildeten Idioten behandelte, dann deshalb.

Sobald sein Fuß den Boden berührte, erinnerte sich Hüseyin daran, dass der heutige Tag ganz anders als alle anderen werden sollte. Sie waren durch mit den endlosen, zwölfstündigen Arbeitstagen und schlaflosen Nächten, die sich so angefühlt hatten, als würden sie ein Leben lang weitergehen.

Seit fünfzehn Monaten arbeiteten sie auf dieser Baustelle. Es war jetzt eineinhalb Jahre her, dass sie auf der Suche nach Arbeit ihr Dorf verlassen hatten. Die ersten drei Monate mussten sie sich in Istanbul als Gelegenheitsarbeiter durchschlagen. Dann hatten sie Glück und konnten auf dieser Baustelle anheuern. Weil sie beide erst sechzehn Jahre alt waren, hatte der Bauleiter zunächst seine Bedenken, schließlich aber gefiel ihm, dass sie unversichert und zu niedrigem Lohn arbeiten würden.

Selahattin Demirtaş

1973 in der ostanatolischen Provinz Palu geboren. Er studierte Schiffsmanagement und Verwaltung in Izmir und Rechtswissenschaft in Ankara. Demirtaş arbeitete als Menschenrechtsanwalt und ist Mitglied der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TİHV) und von Amnesty International. 2014 trat er der HDP bei und wurde zusammen mit Figen Yüksekdağ zum Co-Vorsitzenden gewählt.

Insgesamt arbeiteten acht Kinder auf der Baustelle. Von den 60 Arbeitern waren ohnehin nur sechsundzwanzig versichert. Die anderen hatten zugestimmt, illegal und ohne Versicherung zu arbeiten. Kind zu sein war schwer. Doch als Kind illegal zu arbeiten war noch schwerer. Nichts aber war so schwer für Hüseyin wie die Sehnsucht nach Berfin, die er im Dorf zurückgelassen hatte.

Nachdem sie den nach Schweiß stinkenden Schlafsaal verlassen und in der Kantine die immer nur lauwarme Suppe hastig geschlürft hatten, liefen sie nicht rüber zur Baustelle, wie sie es die letzten fünfzehn Monate über jeden einzelnen Morgen getan hatten, sondern stellten sich in der Schlange vor der Buchhaltung an, um ihren gesammelten Lohn für die Arbeit der letzten fünfzehn Monate zu erhalten.

Es war eine lange Schlange, erschöpft, unglücklich und kaputt. Mit dem Geld, das sie bekommen sollten, wollten sie nach Istanbul zurückkehren, um dort nach einer neuen Arbeit zu suchen. Hüseyins Liebe zu Berfin war wie die Arbeit die er verrichtete nicht gestattet, kindlich und ohne jede Absicherung. Er hatte ihr nur zwei heimliche Briefe geschickt, seit er das Dorf verlassen hatte.

Eigentlich hatte er die Briefe, da er Berfin nicht schreiben durfte, an seine Schwester Zeliha geschickt und sich gedacht, sie sei sicher schlau genug, um sie an Berfin weiterzugeben. Genau genommen kam der Name Berfin nirgendwo in den Briefen vor. Aber Zeliha würde es wohl verstehen und Berfin die Sehnsucht ihres großen Bruders nach ihr ausrichten. Aber auch das Wort Sehnsucht kam nirgendwo vor. Damit niemand Verdacht schöpfte, hatte er sich in seiner Wortwahl sehr zurückgehalten.

Er vertraute nur dem Satz: „Grüß mir die dunklen Augen“, den er an den Schluss jedes Briefes angefügt hatte. Zwar hatten im Dorf alle dunkle Augen, aber niemandes dunkle Augen waren so dunkel wie die von Berfin. Eigentlich hatte er Cemal die Briefe schreiben lassen. Cemal hatte immerhin die bessere Schulbildung. Nachdem auf die beiden Briefe keine Antwort kam, ärgerte sich Hüseyin noch mehr darüber, dass er nicht länger zur Schule gegangen war.

Weiter vorne in der langen, stillen, unglücklichen Schlange kam Bewegung auf, und Hüseyin riss sich von seinen finsteren Gedanken los. Er fing Cemals Blick auf. Das Geraune, das die Bewegung verursacht hatte, setzte sich nach hinten fort und veränderte sich von Mund zu Ohr, bis es etwas entstellt das Ende der Schlange erreichte: Der Buchhalter war verschwunden!

Schnell hatte jeder eine Meinung dazu, was jetzt passieren würde. Die Menschen hatten fünfzehn Monate Tag und Nacht wie Sklaven geschuftet, ohne einen Mucks von sich zu geben. Mit einem Mal waren sie kurz vor einem Aufstand. Sie nörgelten wütend. Das Warten kam ihnen länger vor als die vorigen Monate. Dann überkam sie wieder eine angespannte Stille.

Cemal hatte vergessen, die Absenderadresse auf den Umschlag der beiden Briefe zu schreiben. Schlimmer noch, er hatte auch vergessen, die genaue Postadresse des Dorfes zu schreiben. Die ausbleibende Antwort aus dem Dorf hatte Hüseyin um den Schlaf gebracht. Obwohl er jeden Tag zwölf Stunden lang Sklavenarbeit leistete, konnte er nachts nicht schlafen.

An die Decke über seinem Nachtlager auf dem Kajütenbett hatte er mit einem Kuli Berfin geschrieben. Er konnte den Schriftzug sogar nachts in der Dunkelheit sehen. Beim Verputzen auf der Baustelle hatte er Mal um Mal mit der Ecke der Kelle Berfin geschrieben und es dann wieder mit der flachen Seite sauber verputzt.

Cemal war über Hüseyins Gespenstereien regelrecht zum Dämon geworden. Er hatte ihn zu trösten und aufzubauen versucht, und als es nicht klappte, hatte er ihn verflucht und sogar getreten. Hüseyin aber tauchte ab in seine Tagträume, ohne sich darum zu scheren.

Er erinnerte sich an alles, worüber Berfin und er gesprochen hatten, wenn sie sich heimlich im Dorf trafen. Berfin hatte bis zum Ende der fünften Klasse zur Schule gehen können. Dann hieß es, Bildung ist nichts für Mädchen, sie wurde von der Schule genommen und auf die Heirat vorbereitet. Es war schwer, ein Kind in einem winzigen Dorf in Muş zu sein. Mädchen zu sein war noch schwerer. Und als Kind verheiratet zu werden war am Allerschwersten. Berfin – das Schneeglöckchen – war ein aufsässiges Blümchen.

Bisher hatte sie sich noch keiner Schwierigkeit gebeugt. Sie hatte sich dagegen gewehrt, verheiratet zu werden, und einen Riesenaufstand gemacht. Sie war nämlich auch heimlich in Hüseyin verliebt. Aber sie sehnte sich auch nach Höherem. Nach etwas viel Höherem. Das hatte sie Hüseyin mal angedeutet. Sie sprach davon, zu gehen. Es kam also nicht von ungefähr, dass seine Liebe so arg brannte, so unverzichtbar für ihn war und doch so hoffnungslos.

Dieses Geheimnis hatte Hüseyin nicht einmal Cemal anvertraut. Als der Vorarbeiter aus dem Baustellenbüro herauskam und auf die Arbeiter zuging, kam wieder Leben in die Schlange. Alle spitzten die Ohren. Ohne auch nur seine Stimme zu heben sagte der Mann: „Eure auszuzahlenden Löhne könnt ihr euch in der Firmenzentrale in Istanbul abholen…“

Zuerst waren alle still. Dann begann das Murren. Der Vorarbeiter wollte sich schon umdrehen und gehen, da sagte er noch: „Der Shuttlebus fährt in zehn Minuten ab. Alles paletti?“ Die Arbeiter hörten auf zu murren. Sie ließen ihre Köpfe hängen, lösten die Schlange auf und schlurften schweren Schrittes auf den abgewrackten Bus zu, der sie in die Stadt bringen sollte.

Hüseyin wurde von einer schweren Unruhe und tiefen Wehmut erfüllt. Wenn es auf dieser Welt noch einen anderen Menschen gab, der mit einer ähnlichen Wehmut wie Hüseyin an Berfin denkt und sich in Sehnsucht verzerrt, dann war es ihre Mutter. Denn zwei Wochen, nachdem Hüseyin das Dorf verlassen hatte, verschwand Berfin.

„Auf dass dir kein Haar gekrümmt wird“, hatte ihre Mutter ihr hinterher gerufen, als sie ging. Seit jenem Tag richtete sie bei jedem Morgengebet die Augen gen Himmel und betete für ihre zarte Tochter Berfin. Der kleine Bus mit den Arbeitern wühlte sich schwerfällig durch den Matsch und Hüseyin drehte seinen Kopf, um durch die Heckscheibe ein letztes Mal das Gebäude anzuschauen, das sie fertiggestellt hatten.

Genau über der Eingangspforte hing ein riesiges Schild: „Hochsicherheitsgefängnis Edirne“. Cemal drehte sich ebenfalls um und schaute in die gleiche Richtung. Dann blickten sie einander an. Schnell wendeten sie voller Scham ihre Augen voneinander ab, als seien sie von jemandem auf frischer Tat ertappt worden.

Der abgewrackte Arbeitershuttle fuhr über die matschige Wiese auf den Zubringer, der sie zur Autobahn führen sollte, und die versicherten und unversicherten, alten und noch kindlichen Arbeiter nahmen einander in den Arm und machten sich auf den Weg aus einer traurigen Vergangenheit in eine ungewisse Zukunft. Still sandte Hüseyin seine Grüße an die dunklen Augen aus. Cemal schimpfte leise auf Hüseyin und auf das Schild.

Selahattin Demirtaş, HDP-Ko-Vorsitzender, Haftanstalt Edirne

Aus dem Türkischen von Oliver Kontny

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!