Kurzfilmtage Oberhausen: Ein Planet der Melancholie
Die Kurzfilmtage Oberhausen kramten im 68er-Archiv. Gezeigt wurden aber auch junge Russinnen beim Training fürs Angeln eines Millionärs
Oberhausen ist ein schläfriges Städtchen mit schnurgeraden Straßen, vor hundertfünfzig Jahren für die zuziehende industrielle Reservearmee auf dem Reißbrett geplant. Von der einstigen Kohle- und Erzindustrie künden heute noch scharfkantige dunkle Backsteinburgen, aber die Ära der Konzerne in dieser Region ist vorbei. Ein Erlebniseinkaufspark draußen, wo man Fabriken abgerissen hat, zieht das Bummelpublikum aus dem Innenstadtgeviert ab. Karstadt ist weg, alte Wirtschaftswunderboutiquen konkurrieren mit Ramschläden, der Leerstand wird gelassen kaschiert. Auf dem Maifest halten Kopftuch tragende Familienmamas Abstand von den Tattoo tragenden Sonnenanbetern im Eiscafé, ein paar Schritte weiter feiert eine afrikanische Gemeinde ihren Soul-Gottesdienst. Wie einst ist Oberhausen Zuwandererstadt, ohne Arbeit, im Wartestand vor dem großen Schub, den die "Kulturhauptstadt Ruhr.2010" bringen soll.
Auf diesem melancholischen Planeten landet jedes Jahr das Raumschiff des ältesten deutschen Kurzfilmfestivals. Es war der Ort, wo die zornigen jungen Männer 1962 "Papas Kino" beerdigten und ein Manifest für den neuen deutschen Film verkündeten. Und heute? Was hier an Experimental-, Dokumentar- und Minispielfilmen gezeigt wird, ist Experimentierfeld und Laboratorium, eine Art spielerische Grundlagenforschung für künftige Entwicklungen, mindestens ebenso aber auch originell präsentiertes Archiv. Vielleicht entwickelt sich Europa in fünfzehn Jahren zu einem gigantischen Museum untergegangener Kultur und wir alle funktionieren darin als Dienstleister, vermutete die Documenta-Kuratorin Ruth Noack in einer Diskussion. Irgendwie passte die desillusionierte Vision zum Umfeld des Festivals - aber seine Specials und Retrospektiven zeigten entgegen dem allgemeinen Krisengefühl, wie man mit klugen Programmabfolgen Filmgeschichte vermittelt und Lust macht, Vergleiche zur Gegenwart zu ziehen.
Wie wahr sind historische Filmdokumente und welche Traumata, welcher Wahn verbergen sich zwischen den Bildern? Filme, die sich mit der Analyse von Erinnerungsprozessen auseinandersetzten, präsentierte ein Programmteil unter dem Titel "Grenzgänger und Unruhestifter", der indirekt auf die aktuelle Debatte um 1968 bzw. die Vorläufer und Nachfolger des filmischen Aufbruchs der Sechziger Bezug nahm. "Emergency Needs" von Kevin Emerson konfrontierte das Dokument einer hochnotpeinlichen Pressekonferenz nach den Unruhen im Ghetto von Cleveland/Ohio 1964 mit einem performanceähnlichen Rollenspiel. Der Bürgermeister Carl Stokes, selbst ein Farbiger, windet sich in seinen fadenscheinigen Erklärungen für die Polizeigewalt, während seine Rede in einer Split-Screen-Szene von einer Schauspielerin parallel imitiert wird und das fast lippensynchrone Rollenspiel den falschen Ton des Politikerjargons offenbart. In "Sla Screed # 16" gelingt Sharon Hayes eine ähnlich groteske Dekonstruktion, wenn sie vor der Kamera in Großaufnahme wortwörtlich die Videorede herunterbetet, die die von einer Untergrundarmee entführte Millionärstochter Pattie Hearst an ihre Eltern richtete.
Das selten gezeigte Video "S.C.U.M. Manifesto", mit dem die französische Filmemacherin Carole Roussopoulos und die Schauspielerin Delphine Seyrig 1976 gegen die Nichtveröffentlichung von Valerie Solanas gleichnamiger fulminanter Männerhassrede protestierten - indem sie sie vorlesen und in die Schreibmaschine diktieren -, hätte vielleicht nur das trockene Brot des frühen Feminismus repräsentiert, wenn nicht das Wettbewerbsprogramm dazu aktuelle Schockmontagen aus Osteuropa und Asien geliefert hätte.
In "Kak stat stervoi", einem russischen Dokumentarfilm, der einen der Hauptpreise gewann, begleitete Alina Rudnitskaya zum Beispiel eine Gruppe junger Frauen in St. Petersburg, die unter Anleitung eines Coaches trainieren, wie sie Männer verführen, beeinflussen und kontrollieren können. Traumziel ist die Ehe mit einem Millionär, kurz: ein Leben ohne Arbeit bei maximalem Konsum. Die Ablösung vom alten Rollenbild der Schwerstarbeiterin erscheint wie übermalt von den Luder-Ikonen der globalisierten Popära und einer Managerlogik, wenn es darum geht, sich selbst als Luxusweibchen zu verkaufen.
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