Kurnaz-Affäre: "Ein Staat, der Beistand leisten kann, wenn es ernst wird"
Bei der zentralen SPD-Wahlkampfveranstaltung in Bremen gibt es Proteste gegen Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der den Bremer Türken Murat Kurnaz jahrelang in Guantánamo schmoren ließ. Steinmeier schweigt dazu, die Bremer Polizei lässt ein Protesttransparent verschwinden.
Das Datum war nicht sehr sensibel gewählt. Ausgerechnet am 11. September kam Ex-Kanzleramtsminister und SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier für einen Wahlkampfauftritt nach Bremen, in die Heimat des einstigen Guantanámo-Gefangenen Murat Kurnaz.
Es ist Freitagnachmittag, der Markplatz ist zur Hälfte gefüllt mit SPD-Anhängern. Gegen 16 Uhr entrollen Kletterer an einem Turm des Bremer Doms in etwa 40 Metern Höhe ein rotes Transparent mit der Aufschrift "Wir haben Murat Kurnaz nicht vergessen". Unten werden Flugblätter verteilt, die daran erinnern, dass Steinmeier 2003 ein Angebot der USA abgelehnt hatte, den unschuldigen Kurnaz nach Deutschland zu überstellen. Der in Bremen geborene türkische Staatsangehörige musste deshalb bis 2006 in dem Foltergefängnis ausharren. Dann erst setzte Angela Merkel seine Freilassung durch. Steinmeier hatte später über den Fall gesagt: "Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Ich habe keine Fehler gemacht und würde wieder so entscheiden."
Kurnaz selber ist nicht zu dem Steinmeier-Auftritt gekommen. Dafür erscheint sein Anwalt Bernhard Docke, der jahrelang für Kurnaz Freiheit kämpfte. Steinmeier habe "Hilfe verweigert, als sie möglich war und Kurnaz sie bitter benötigte", sagt Docke. "Und er rechtfertigte seinen kaltherzigen Fehler mit Schuldzuweisungen an das Opfer."
Die Bremer Polizei mag dem Außenminister die Anklage nicht zumuten. Beamte klettern auf den eingerüsteten Turm und entfernen das Transparent, bevor Steinmeier eintrifft. Eine Person, die die Polizisten für einen der Kletterer halten, wird vorm Rathaus festgenommen.
Etwa 50 Jusos mit roten Steinmeier-Shirts bilden eine Gasse bis zur Bühne, die Steinmeier gegen 17.15 Uhr - begleitet von Bremens Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD) - durchschreitet. Böhrnsen ist der einzige Politiker, der sich je bei Kurnaz entschuldigt hat. Bevor Steinmeier das Wort ergreift, versucht Böhrnsen für den Gast Stimmung zu machen: "Wir lassen niemanden hinten runterfallen, wir kämpfen für die Lebensperspektive aller Menschen."
Dann spricht Steinmeier. Er stehe für eine "mutige Politik mit dem Gesicht zu den Menschen" - und zwar "auch mutig gegenüber mächtigen Freunden." Wer habe denn "Nein gesagt zu Bushs Irak-Krieg?", fragt er. "Das war nicht die CDU, das war die Sozialdemokratie." Und: "Wer steht denn an der Seite der Menschen?" Dann lässt er wissen, dass er bei allen Wahlkampfveranstaltungen "spürt, dass die Menschen einen starken Staat wollen, einen, der Beistand leisten kann, wenn es ernst wird." Als Steinmeier die Zuhörer bittet, dies auch ihren Nachbarn auszurichten, geht Docke.
Die Sache mit Kurnaz hänge Steinmeier "wie ein Mühlstein um den Hals", sagt der Anwalt. "Nichts ist ihm unangenehmer als auf diesen dunklen Fleck angesprochen zu werden. Das darf ihm nicht geschenkt werden, solange er starrsinnig behauptet, alles richtig gemacht zu haben und in vergleichbarer Situation wieder so zu handeln."
Währenddessen kontrolliert die Polizei einen Jugendlichen, der Fotos von dem Transparent aufgenommen hat. Nach seiner Aussage handelt es sich dabei um Beamte der Bremer Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit. Die betrachten es aber offenbar als ihre Aufgabe, Beweise zu vernichten: Sie zwingen ihn zur Herausgabe seines Fotoapparats und löschen den Speicherchip, berichtet er kurz darauf. Anschließend sei ihm die Kamera mit den Worten zurückgegeben worden, die Löschung sei "ein Versehen" gewesen. Einsatzleiter Hans-Jürgen Pusch sagte danach, dass "es natürlich nicht in Ordnung gewesen wäre" wenn die Fotos gelöscht worden seien. "Der Betroffene hat die Dienstnummern der Kollegen bekommen und kann sich beschweren."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“