Kunstprojekte auf der Brache: Die Hauptstadt der Eigensinnigen
Nirgendwo in Deutschland tummeln sich so viele visionäre Menschen und Ideen wie in Berlin. "Der subjektive Unterschied zwischen der realen und der gefühlten Lage wird irgendwann materielle Wirkung haben", bestätigt auch die Berlin-Studie. Wo das Unmögliche möglich wird
Ein Lagerfeuer züngelt in die Höhe, Kinder halten Stockbrotteig in die Flammen. In der Dämmerung zwitschert eine Nachtigall. Sie sitzt auf dem Schnittlauch, der auf dem Dach des Schuppens wächst. Keine Landidylle, sondern eine Szenerie mitten in der Stadt, im Berliner Bezirk Mitte genauer gesagt. Dort, in der Bergstraße, hat eine Hausgemeinschaft Anfang der 90er-Jahre ein Haus gekauft, saniert und den Hof in ein Paradies für Kinder, Pflanzen und Hauskaninchen verwandelt.
Häuser dieser Art gibt es viele in Berlin, hinter manchen rauen Fassaden verbergen sich fantastische Biotope, immer aber auch Menschen mit dem Ziel, ihr Wohnumfeld zu verbessern und dabei neue Wege zu gehen. Eigentlich kein Wunder: Wer kreativ ist, fängt gerne vor der eigenen Haustür an. Und da Berlin nun mal die Hauptstadt der Kreativen ist, wachsen hier auch unendlich viele Ideen und Projekte in den Himmel.
Das "Berlin-Gefühl" bringe die Stadt trotz aller objektiven wirtschaftlichen und sozialen Probleme nach vorne. Das hat auch die Berlin-Studie ergeben, die Ende November offiziell vorgestellt wurde. "Der subjektive Unterschied zwischen der realen und der gefühlten Lage wird irgendwann materielle Wirkung haben", sagte Michael Zürn, Politik-Professor an der Hertie School of Governance, einer der Autoren der Studie. Die kreative Atmosphäre der Stadt werde dazu beitragen, die schlechte wirtschaftliche Lage zu verbessern. Es gehe in dieser Stadt offenbar nicht um harte wirtschaftliche Fakten und das Geld auf dem Konto, sondern auch um ein Lebensgefühl. Die Stadt biete Lebensräume für verschiedene Szenen und Subkulturen, ohne sie zusammenzuzwingen oder einer gemeinsamen Identität zu unterwerfen, stellte der Bielefelder Soziologieprofessor Klaus Hurrelmann fest. "Das ist für eine Stadt von Wert."
Sechs Prozent aller Berliner sind bei der Künstlersozialkasse gemeldet. Rund 400.000 Bewohner verdingen sich in kreativen Berufen, sowohl sozialversicherungspflichtig angestellt als auch freiberuflich (Quelle: Berliner Senat). Das ist mehr als ein Viertel aller rund 1,5 Millionen Erwerbstätigen in Berlin. Tendenz steigend.
Und so sieht man allerorten Kunstprojekte, Designerläden, die größten Biosupermärkte Europas, Getreidefelder zwischen Mietshäusern und sogar mitunter Bienen, die im Plattenbau wohnen. Die Idee, auf einer Brache mitten in der Stadt vis à vis der Bundesdruckerei Bienen zu halten, hatte der Künstler Harry Schulz 2006. Kurzum baute er eine Miniatur-Plattenbausiedlung in die Brache mit idealen Bedingungen für ein eine Million starkes Bienenvolk. Ein Imker mit Bienen war schnell gefunden, und so summte es bald in "Honey Neustadt", so der Name der Siedlung, eine Reminiszenz an die ehemalige Chemiearbeitersiedlung Halle-Neustadt. 250 Kilo Honig erntete der gebürtige Stuttgarter und Wahlberliner Sachs am Ende der Saison. Seitdem finden immer wieder Kunstprojekte auf der Brache eine Heimat, etwa 2008 das Einraum-Hotel, in dem genau eine Person in einem hübsch eingerichteten Container auf Stelzen gemütlich nächtigen konnte. Bald soll die Brache bebaut werden, doch dann werden Sachs und seine Mitstreiter vom Kunstrepublik e. V. andere Flächen finden und bespielen. Denn Platz für Ideen gibt es trotz aller Bautätigkeit nach wie vor genug in der Stadt im Wandel.
Doch Raum für Ideen ist selbst in der kleinsten Box. Wie anders ist zu erklären, dass zwei Studenten der Humboldt-Universität eine Ausstellung auf die Beine stellten, in der man Straßen riechen sollte? Unter dem Titel "Sensing the street" sah man Anfang 2008 im Mitte Museum am Festungsgraben Scharen von Besuchern ihre Nase in sogenannte Duftboxen stecken. Ein guter Gag, aber wer das Museum verließ, musste unverzüglich schnuppern. Ja, wie riecht die Stadt eigentlich? Die Idee, die Besucher sensibel zu machen für die Umgebung, war tatsächlich aufgegangen.
Smoothees: Alles dreht sich um Obst und Gemüse, Friedrichstr. 68 (Mitte), So.-Do. 10-1 Uhr, Fr.-So. ab 10 Uhr, Kastanienallee 100, 10119 Berlin (Prenzlauer Berg), Tel. (0 30) 20 94 50 80
Natural Mente: Berlins einziges makrobiotisches Restaurant, Schustehrusstr. 26, 10585 Berlin (Charlottenburg), Tel. (0 30) 3 41 41 66, www.naturalmente.de
Diwan: Zutaten aus biologischem Anbau aus der Region, Bergmannstr. 59, 10961 Berlin (Kreuzberg), Tel. (0 30) 492 12 83, www.bio-diwan.de
taz-Café: Fair gehandelter Kaffee, Kalbsrückensteak aus Neuland-Fleisch sowie jede Menge Lektüre, Rudi-Dutschke-Straße 23, 10969 Berlin (Kreuzberg), klick
Skulpturenpark Berlin-Zentrum: Bienen wohnen im Plattenbau (siehe Text). Kunstprojekt auf einer Brache im Berliner Stadtzentrum. Infos: KUNSTrePUBLIK e. V., Neue Grünstr. 20, 10179 Berlin, www.skulpturenpark.org
Tacheles: Kunst- und Kulturhaus in der Ruine eines alten Shoppingzentrums. Oranienburger Str. 54-56a, 10117 Berlin (Mitte), www.super.tacheles.de
Künstlerhaus Bethanien: Kunst in einem ehemaligen Krankenhaus. Bekannt für seine Ausstellungen u. a. zum Thema Street Art, Mariannenplatz 2, 10997 Berlin (Kreuzberg), Tel. 6 16 90 90, www.bethanien.de
RAW-Tempel: Auf dem zehn Hektar großen Areal des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerks arbeiten 45 Projekte, Revaler Straße 99, 10245 Berlin (Friedrichshain), Tel. (0 30) 2 92 46 95, www.raw-tempel.de
So ist es manchmal nur ein kleiner Schritt von einer guten Idee zu einem Ergebnis, das mitunter sogar das Leben in der Stadt grundsätzlich verändert. Das hofft jedenfalls Ralf Steeg, der die Spree wieder zum Schwimmbad machen will. Der Diplom-Ingenieur für Landschaftsarchitektur und Umweltplanung ärgerte sich darüber, dass der Fluss zu dreckig ist, um darin baden zu gehen, und entwickelte ein System an Auffangbecken, die verhindern sollen, dass weiterhin ungeklärtes Abwasser in die Spree gelangt. Das passiert immer dann, wenn die Kläranlagen der Stadt nach starkem Regen überlastet sind. Diese Abwässer würden aufgefangen und den Kläranlagen zugeführt, sobald diese wieder Kapazitäten haben. Der Berliner Senat sieht der Idee mit Wohlwollen entgegen, allerdings hakt es noch an der Finanzierung.
Schwimmen in der Spree - nach über 80 Jahren Badeverbot wäre das eine Sensation. Dann hätte auch das Badeschiff in Treptow seine Schuldigkeit getan. Dieses ermöglicht sozusagen virtuelles Schwimmen im Fluss: Ein altes Containerschiff wurde innen mit Schwimmbadfolie ausgekleidet, mit gechlortem Trinkwasser gefüllt und liegt seit 2003 am Ufer der Spree als Schwimmbad vor Anker. Im Winter wird der Pool sogar überdacht und um eine Sauna ergänzt. Die Idee stammt von Falk Walter, einem der ganz großen Visionäre der Stadt. Er hat mit viel Eigensinn etliche auf den ersten Blick unglaubliche Projekte vorangetrieben. Aus einem ehemaligen Depot der Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG) machte er eine heute florierende Konzerthalle mit bis zu 9.000 Zuschauern. Auch die Hoppetosse, ein Club auf einem Fahrgastschiff, oder das szenige Uferlokal Freischwimmer am Landwehrkanal sind seine "Kinder". So war Walter Anfang des Jahrtausends einer der Ersten, den es zum Wasser zog. Mittlerweile tummeln sich unzählige Strandbars und Clubs am Spreeufer. Dass der Kiez zwischen Oberbaumbrücke und Molecule-Men-Skulptur heute eines der angesagtesten Ausgeh-Adressen der Stadt ist, hat vor allem mit Walters Initialzündungen dort zu tun.
Wo ein Leuchtturm strahlt, zieht es die Leute hin. Auch das Tacheles war Anfang der 1990er-Jahre so ein Lichtblick. Künstler hatten sich zusammengeschlossen, um in der Ruine eines 1905 errichteten Shoppingzentrums Ateliers, Theater- und Kinoräume einzurichten. Damit verhinderten sie die Sprengung des Gebäudes, bis heute konnte kein Investor die Kulturschaffenden vertreiben. Und während ringsum ein Büroturm nach dem anderen in den Himmel wächst, Reisebusse vorüberzuckeln und sich Horden junger Erwachsener auf der Amüsiermeile Oranienburger Straße mit billigen Cocktails die Kante geben, werkeln Bildhauer und Theatermacher unbeirrt voran, einem nur ihnen bekannten Ziel entgegen. Der Mietvertrag der Künstler, die 50 Cent pro Monat für das gesamte Haus zahlen, endet Ende 2008. Was dann kommt? Irgendwie wird es weitergehen.
Orte wie das Tacheles, das Badeschiff oder ein herrlich blühender Hofgarten zeugen vom unerschütterlichen Willen, das scheinbar Unmögliche möglich zu machen. Jeden Tag aufs Neue.
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