Kunstaktion auf Tempelhofer Feld: Ein Appell an Freiheit und Vielfalt
Nackt auf dem Tempelhofer Feld: Mit einem Shooting endete das dreijährige Projekt „Naked Berlin“ des Künstlerduos Mischa Badasyan und Abdulsalam Ajaj.
Kazimirova zeigt sich zum ersten Mal vor einer Kamera nackt. „In der Situation, in der ich mich nicht bewegen und so lange nackt stehen bleiben musste, habe ich meinen Körper akzeptiert. Meine Tränen flossen, weil ich mich selbst mit allen Schwächen und Fehlern angenommen habe“, sagt die 33-Jährige. „Es war ein glücklicher Moment.“ Seit Freitag ist es genau ein Jahr her, dass sie ein alkoholfreies Leben führt. In der Reihe der Nackten fallen ihre Tattoos auf – vor allem die Matroschka (hölzerne Puppe in der Puppe – Anm. d. Red.), die ihr ganzes Bein bedeckt. Die Floristen-Designerin kommt aus der Ukraine und wohnt seit vier Jahren in Berlin.
Ein doppeltes Glück. Sie habe ihre Sozialisationskomplexe abgelegt, sie brauche keinen Alkohol mehr, um Mut zu haben, cool zu bleiben und sich zu lieben. Die Zeiten seien vorbei, als sie in den Spiegel guckte und heulte, weil sie ihren Körper schrecklich fand.
Anders bei Tim Othéo, der sich mit pornografischer Kunst auskennt und selbst ein Solodarsteller ist. Bei ihm geht es um kollektives Nacktsein. „Wenn ich mich nackt an den See lege, dann genieße ich das. Es ist nicht unbedingt geil, sondern ich genieße das Gefühl, als schön empfunden zu werden. Und hier genieße ich es, das Gleiche mit anderen Menschen machen zu können“, sagt Othéo.
„Wie ekelhaft seid ihr“
Aber nicht nur Künstler*innen ziehen sich aus. Auch ein Bürokaufmann, eine Deutschlehrerin, ein Student am Fachbereich Maschinenbau wollen sich frei, aufregend, süß und unschuldig fühlen.
Die Sonne knallt schon auf das Feld, obwohl es noch so früh ist. Jogger laufen rücksichtsvoll an der nackten Gruppe vorbei, einige Passant*inen, die gerade mit ihren Hunden spazieren gehen, lächeln. Ein bulliger Mann hingegen brüllt: „Wie ekelhaft seid ihr, perverse Pädophile!“
Diesen Spruch haben die Performenden schon oft gehört. Bereits seit drei Jahren finden die nackten Aktionen in Berlin statt. So haben schon viele Menschen vor der Kamera nackt positioniert – mal am Wasserfall im Viktoriapark in Kreuzberg, mal auf den Treppengeländern verschiedener U-Bahn-Stationen.
In seinen Performances will Badasyan drei Elemente verbinden: Stadt, Architektur und Körper. „Es geht vor allem um Body Positivity. Ich will den echten, den normalen Körper zeigen, den eigentlich die Mehrheit hat“, sagt Badasyan. Auf der anderen Seite will er auf die Bedeutung des öffentlichen Raums aufmerksam machen.
„Stadt für Menschen zurückerobern“
Daher hat er das Tempelhofer Feld für sein Fotoshooting nicht zufällig ausgesucht: „Wetter und Sonne schaffen hier ein Bild vom Paradies. Man läuft über ein Feld direkt in der Stadt und sieht kein Ende. Das gibt mir ein Gefühl von Freiheit“, sagt Badasyan.
Doch diese Freiheit hat ihre Grenzen. Nach wenigen Minuten kommt die Security und fordert auf, die „Provokation“ zu beenden und das Feld zu verlassen. Die Sicherheitsleute sind frech, aggressiv und angriffslustig. Das sei privates Gelände. Damit ist die Sache erledigt.
„Ich frage mich immer, welche Räume bleiben für die Öffentlichkeit“, sagt Badasyan. „Ich will die Stadt für die Menschen zurückerobern.“ Sich provozieren lassen will er auf keinen Fall. Deswegen macht er seine Fotoshootings immer ganz früh am Tag. „Es geht gar nicht darum, ob wir unsere Titten, Schwänze und Ärsche zeigen und damit andere belästigen“, sagt er und ärgert sich: „Wir wollen öffentliche Räume für uns alle haben.“
Die Nacktaktion ist vorbei, doch sie wird nachwirken: Im September bringt Badasyan zusammen mit dem Fotografen Ajaj einen Bildband mit den gesamten Berliner Fotoshootings heraus. „Naked Berlin soll ein Appell an die Öffentlichkeit, an Freiheit und Vielfalt sein“, sagt Badasyan.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
HTS als Terrorvereinigung
Verhaftung von Abu Mohammad al-Jolani?