Kunst in Bremerhaven: Humor und Rigorismus
Jahrzehntelang hat Jürgen Wesseler Kunst von Weltrang nach Bremerhaven geholt: in den Kunstverein, aber vor allem ins dortige Kabinett für Aktuelle Kunst. Was dort seit 1967 so alles zu sehen gewesen ist, würdigt nun schon die zweite Ausstellung.
BREMEN taz | Am Morgen wartet Jürgen Wesseler wie bestellt und nicht abgeholt. In der Bremer Weserburg soll er einer Gruppe junger Kunstwissenschaftler erklären, was es mit der konzeptuellen Avantgarde auf sich hat. Er geht von Objekt zu Objekt, von Wandbild zu Videoprojektion. Es ist seine Sammlung, diese Ausstellung „Kabinettstücke – Vorhut aus dem Hinterland Teil 2“. Gezeigt werden von Wesseler kuratierte Arbeiten aus 45 Jahren. Zuerst zu sehen waren sie allesamt im Bremerhavener Kabinett für Aktuelle Kunst, vom Gründungsdirektor der Weserburg, Thomas Deecke, einmal mit der legendären Avantgarde-Galerie „Der Sturm“ verglichen. Ein Ort für die zeitgenössische Kunst also, seiner Zeit immer wieder um Jahre voraus.
Im Vorbeigehen erzählt Wesseler, der beinahe 25 Jahre dem Kunstverein Bremerhaven vorstand und seit 1967 das Kabinett betreibt, von Künstlern, die aufs Meer gefahren und nie zurückgekehrt sind. Er bleibt vor einer Arbeit stehen, die der Konzeptkünstler Lawrence Weiner Wesselers Sohn Moritz zur Geburt geschenkt hat. Weiner empfahl ironisch: „Davon soll er sich mit 18 Jahren einen Porsche kaufen.“ Machte Moritz natürlich nicht.
Begeisterte Anekdoten
Dann tauchen, doch noch, der Direktor der Weserburg und ein paar eher unmotivierte Studierende auf. Wesseler erzählt zur Begrüßung eine Anekdote über den Künstler Henk Visch so begeistert, dass er fast dessen Skulptur „Das Lächeln“ umstößt. „Eigentlich müsstet ihr zu mir nach Bremerhaven kommen und ich nicht zu euch nach Bremen“, sagt er dann. „Als Kurator muss man Lust haben auf die Welt. Anstrengung ist nötig!“
Anstrengungen und Welt hat Wesseler, ehemals Vermessungsingenieur beim Bremerhavener Stadtplanungsamt, nie gescheut. Mit trockener, norddeutscher Ironie hat er schon zu Beginn seiner Kuratorentätigkeit geflachst, dass ihm für die Arbeit im Kabinett, wenn er alt und wehrlos sei, „irgendwer das Bundesverdienstkreuz überhängen“ werde. 2008 war dieser Irgendwer dann der Bremer Regierungschef. Gerhard Richter schickte ein übermaltes Foto mit dem Satz: „Ich finde das gut und richtig.“
Das Verdienstkreuz hat Wesseler für eine Arbeit bekommen, die Bremerhaven auf die Landkarte des internationalen Ausstellungsbetriebs gesetzt hat. Eine Stadt, die immer besser als ihr Ruf war, die es aber nie leicht gehabt hat mit ihrem teils desaströsen Bild in den deutschen Medien – trotz Kunstmuseum, Dreisparten-Theater und Zukunftstechnologien im boomenden Hafen. Vor ein paar Jahren noch stellte der Spiegel Bremerhaven quasi auf eine Stufe mit der New Yorker Bronx in den 80er-Jahren: Da stand ein junger Redakteur in der Fußgängerzone vor dem leer stehenden Hotel Naber, einst das erste Haus am Platze, und meinte, nur Verfall zu sehen.
Nur ein paar Schritte weiter, in einer kleinen Seitenstraße, hätte er direkt unter dem Kunstverein das Kabinett für Aktuelle Kunst entdecken können. In diesen 33-Quadratmeter-Raum lockt Wesseler seit über 45 Jahren Kunst „jenseits des Tellerrandes“. Nicht immer leicht zu vermitteln: Die Verrisse füllen heute zwei große Aktenordner.
Und trotzdem machte Wesseler weiter, zusammen mit Freunden, seiner Frau Christine und später mit der Unterstützung seines Sohnes Moritz. Auch in dem Wissen, dass in Bremerhaven, abseits des großen Ausstellungsbetriebs, eben auch größere Freiräume bestehen. Für die Künstler wie für den Kurator.
Schon sein Vater hatte Wesseler 1943 mitgenommen, als er im Kunstverein ein Bild kaufte. „Ich war mit seiner Wahl gar nicht einverstanden“, sagte Wesseler einmal der Nordsee-Zeitung. Was einerseits von seinem Humor kündet, andererseits von unbedingtem Rigorismus, wenn es um Kunst geht.
So kamen zu den heute gefeierten und in der Bremer Weserburg gewürdigten Ausstellungen des Kabinetts oftmals nur ein paar Besucher: Die Avantgarde fand unterhalb des Aufmerksamkeits-Radars der meisten Bremerhavener Bürger statt. Doch sie fand statt. Wesseler gab nie viel auf Publikumskunst, war nicht gerade offen für Einwände seiner Kritiker: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das Publikum nicht in dem Maße lernfähig ist, wie das immer gerne behauptet wird.“
Väter und Söhne
Als Ende November vergangenen Jahres nun der belgische Maler Luc Tuymans und Wesseler Schulter an Schulter im Bremerhavener Kunstverein standen, war es Wesselers Sohn Moritz, der in die Ausstellung von Tuymans grafischem Werk einführt.
Wesseler, der für das Bremerhavener Klima immer ein wenig zu dünn angezogen wirkt in seinem weiten, olivgrünen Mantel, den feinen Cordhosen, dem schönen Fischgratjackett, blinzelt durch die runde Hornbrille und ist sichtlich erfreut: über die Kunst, über Tuymans und über seinen Sohn, den Kurator, mit dem er mehrmals am Tag telefoniert und auf den er mächtig stolz ist. Zusammen mit Wesselers Frau Christine steht hier eine Familie beisammen, der sich die Künstler des Kabinetts verbunden fühlen.
So liefen die Ausstellungen immer über persönlichen Kontakt und über Sympathien. Das Kabinett, für die FAZ schon vor vielen Jahren eine „Lotsenstation für besondere Sehgewohnheiten“, war nicht nur Wegweiser, sondern auch Heimathafen für ein immer im Entstehen befindliches (Gesamt-)Werk, welches nun im Nachhinein, zum Beispiel in der Weserburg, in seiner Bedeutung beobachtbar wird.
Über die Zeit kamen immer wieder junge Künstler, manchmal sogar auf eigene Kosten: Gerhard Richter, Imi Knoebel, Sol LeWitt, Sigmar Polke, Lawrence Weiner, Hanne Darboven, Manfred Pernice und viele mehr. Sie kamen, bevor sie gefeierte Stars des Kunstbetriebs wurden, bevor sie auf der Documenta ausstellten. „Lange bevor es entsprechende Magazine oder gar das Internet gab“, sagt Wesseler, sei er losgezogen, um wie ein Spürhund Gleichgesinnte nach Bremerhaven zu locken. Als er einmal in Düsseldorf war, ging er in eine Telefonzelle, blätterte im Telefonbuch und rief Joseph Beuys an. Kurz darauf empfing ihn der Aktionskünstler, Rasierschaum im Gesicht, und nahm ihn mit zu seinem Schüler Blinky Palermo. So oder so ähnlich verlief der erste Kontakt meistens: direkt, ohne Umschweife, persönlich.
Jürgen Wesseler, den ein Kritiker mal mit einem Einhorn verglichen hat, einem Fabeltier, welches alleine von Luft und der Liebe zur Kunst lebt, redet darüber nur, wenn er gefragt wird. Nach über 45 Jahren ehrenamtlicher Kuratorentätigkeit muss er sich nichts mehr beweisen. Und dass sein Ruf in Paris und New York größer ist als zu Hause, ist nicht mehr als eine kuriose Randnotiz. „Provinz ist halt nur da, wo man sie zulässt“, hat er einmal gesagt. Ein ganz wichtiger Satz. Er besagt, dass es auf die Arbeit und die Intention ankommt. Nicht auf die Institution und deren vorgebliches Prestige. Diese Haltung wurde von den Künstlern, die kamen, immer gewürdigt.
Zu Ehren seines Mentors hat Gregor Schneider – der 2001 den Deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig klaustrophobisch zubaute und dafür den goldenen Löwen erhielt – Wesselers Kabinett im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt maßstabsgetreu nachgebaut. Seit 2009 werden da Ausstellungen des Kabinetts als „Double“ kuratiert, von Moritz Wesseler und dem Kunstwissenschaftler Mario Kramer. Eine größere Respektsbekundung ist fast nicht denkbar.
Maximaler Respekt
In der Weserburg spricht Jürgen Wesseler nun gewissenhaft mit den jungen Kunststudenten, die scheinbar wenig bis gar nichts von ihm wissen. Sie stellen keine Fragen. Sie haben keine Ideen. Wesseler lässt es sich nicht anmerken, aber solches Desinteresse an der Kunst macht ihn ratlos.
Später rührt er in seinem Espresso, schaut durch seine Hornbrille, funkelt, und sagt nüchtern: „So werden die keine vernünftigen Kuratoren.“ Dann zieht er seinen dünnen, olivgrünen Mantel über und verschwindet zurück ins Hinterland.
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