Kunst des Knotens: „Makramee hat mein Leben gerettet“
Manfred Hall aus Mannheim hat im Ruhestand ein neues Hobby gefunden: Makramee. Auf Instagram hat er mehr als 55.000 Follower.
wochentaz: Herr Hall, Sie haben den Großteil Ihres Lebens mit Ihrer Arbeit auf der Baustelle oder im Betrieb verbracht, zuletzt 33 Jahre in derselben Firma. Vermissen Sie irgendetwas aus dieser Zeit?
Manfred Hall: Nein. Nichts.
Wirklich, überhaupt nichts?
Der Mensch
Manfred Hall, Jahrgang 1952, ist in Mannheim aufgewachsen und lebt dort auch heute noch mit seiner Frau. Nach der Schule wollte er eigentlich Zeichner werden, machte aber eine Ausbildung zum Maler, um Geld für die Familie zu verdienen. 33 Jahre lang hat er bis zur Rente in einem Farbenherstellerbetrieb gearbeitet.
Das Hobby
Das Wort Makramee leitet sich aus dem arabischen „miqrama“ ab, was „geknüpfter Schleier“ bedeutet. Es handelt sich um eine Knüpftechnik, die zur Herstellung von Ornamenten, Textilien, Schmuck oder Kunstwerken verwendet wird.
Ich bin froh, dass ich schon so alt bin. Aber ich bin auch traurig, dass ich so alt bin. Ich möchte einfach meine letzten Jahre genießen, wer weiß, wie lange noch. Ich hoffe, ich werde 120 Jahre alt.
Wann ist man alt?
Man ist immer so alt, wie man sich fühlt.
Wie alt fühlen Sie sich?
Um die 40 oder 45.
Wie alt haben Sie sich denn zu dem Zeitpunkt gefühlt, als Sie in Rente gingen?
Damals fühlte ich mich so alt, wie ich war, 65 Jahre alt.
Wie haben Sie sich den Ruhestand damals vorgestellt?
Ich habe schon mit 50 angefangen, mich darauf zu freuen. Es dauert nicht mehr lange, dachte ich mir damals – es sind nur noch 15 Jahre, das schaffe ich schon. Ich träumte von der Freizeit, die man nicht hat, wenn man berufstätig ist. Man könnte in den Urlaub fahren, egal wann.
Sie haben sich also auf die Rentenzeit gefreut?
Ja, auch weil ich drei Tage vor meiner Rente einen Rollerunfall hatte. Ich hätte es fast nicht überlebt. Das kann nicht wahr sein, dachte ich mir. Drei Tage bevor ich endlich in Rente gehen kann, werde ich umgefahren. Ich habe mein ganzes Leben lang gearbeitet, nur um meinen Ruhestand nicht genießen zu können. Das wäre mein Albtraum gewesen.
Wie war Ihr letzter Arbeitstag?
Ich fuhr um 6 Uhr morgens zur Arbeit, stand an der Maschine, füllte Farbdosen, wie immer. Meine Kollegen verabschiedeten sich und ich räumte meinen Spind aus. Meine Werkzeuge habe ich meinem Kollegen gegeben. Am Ende war es schmerzhaft, die Firma zu verlassen.
Warum schmerzhaft?
Ich wusste, dass ich meine Kollegen nicht mehr so oft sehen würde. Sie waren zwar mehr wie Betriebsfreunde, wirklich enge Freunde sind sie nicht geworden. Trotzdem hatten wir immer eine gute Zeit zusammen. Das habe ich schon vermisst.
Sie sind zum Jahreswechsel 2018 in Rente gegangen. War es so, wie Sie es sich vorgestellt haben?
Die ersten paar Monate waren großartig. Ich konnte endlich ausschlafen. Im Sommer arbeitete ich im Garten und erledigte einige Aufgaben am Haus. Aber dann kam der Winter. Ich konnte nicht mehr draußen im Garten arbeiten, die Decke fiel mir auf den Kopf.
Sie hatten zu viel Zeit.
Ich vermisste meine Kollegen. Ich hatte keinen Kontakt mehr zu Menschen. Ich fiel in ein Loch. Ich bin eingeschlafen, wurde traurig, hatte keine Lust mehr auf das Leben.
Was haben Sie getan, um sich die Zeit zu vertreiben?
Ich saß in meinem Sessel und schaute aus dem Fenster: wer vorbeiging, welche Autos vorbeifuhren. Ich dachte mir nur: Was bietet mir dieses Leben noch? Was kann ich in diesem Alter noch tun? Es fiel mir schwer, Dinge zu tun, die ich früher gerne getan habe.
Zum Beispiel?
Der Flur in unserem Familienhaus musste neu tapeziert werden. Ich konnte das, was ich früher gerne gemacht habe, nicht mehr tun. Ich hatte einfach keine Lust mehr. Ich weiß nicht, warum.
Tapezieren haben Sie schon als Jugendlicher gelernt, nach der Schule haben Sie eine Ausbildung zum Maler gemacht. Wollten Sie schon immer Maler werden?
Ich habe schon immer viel gemalt. In der Schule habe ich Karikaturen gezeichnet.
Aber Karikaturen zeichnen und Fassaden streichen sind zwei ganz verschiedene Dinge.
Ich wollte erst eine Lehre machen und dann auf die Universität gehen, um Zeichner zu werden. Aber das hat nicht geklappt, weil mein Vater in dieser Zeit gestorben ist.
Warum konnten Sie dann nicht studieren?
Meine Mutter ging wieder arbeiten, aber das reichte nicht aus. Ich war das mittlere von fünf Kindern, meine beiden jüngeren Geschwister waren noch in der Schule und meine beiden älteren Brüder arbeiteten bereits. Meine Eltern hatten gerade ein Haus gebaut. Es wäre wirklich knapp geworden, wenn ich weggezogen wäre und mein Gehalt verloren hätte.
Später konnten Sie diesen Traum nicht mehr verwirklichen?
Das wollte ich zwar machen, es hat aber nie geklappt. Das bedaure ich bis heute.
Heute haben Sie vier Kinder und fünf Enkelkinder. Haben sie Ihnen geholfen, aus dem Loch herauszukommen, in das Sie geraten sind, nachdem Sie in Rente gegangen waren?
Meine Tochter hat mir Makramee gezeigt, das hat mir wirklich das Leben gerettet. Wir sind gemeinsam ins Internet gegangen und haben uns Videos darüber angeschaut. Ich habe dann verschiedene Knoten ausprobiert. Wenn es mal nicht geklappt hat, habe ich die Knoten wieder aufgemacht und es noch mal probiert.
Die gescheiterten Knoten haben Sie nicht demotiviert?
Nein, ganz im Gegenteil. Wenn überhaupt, dann haben sie mich motiviert, weiterzumachen. Heute mache ich das alles blind, ich brauche nicht einmal mehr ein Muster. Ich schaue mir einfach ein Bild an und weiß schon, wie ich es knüpfen muss.
Was war das erste Kunstwerk, das Sie selbst hergestellt haben?
Ein Ring, bei dem die Kordeln in der Mitte zusammenlaufen – eine nach links und eine nach rechts gezogen und dann verknotet. Die Freundin meiner Tochter wollte den allerersten haben.
Und wie sehen die Projekte heute aus?
Heutzutage mache ich größere Projekte, die zwei bis drei Wochen dauern. Es macht mir immer noch Freude, wenn ich ein Projekt fertig stelle. Ich fühle mich innerlich sehr glücklich, wenn ich das Makramee ansehe und sagen kann: Das hast du selbst gemacht.
War das am Anfang der Ansporn, mehr Makramee zu machen?
Ja, klar. Aber Makramee hat mich auch ruhiger gemacht, mein Leben ist angenehmer geworden. Meine Frau empfindet das auch und unterstützt mich, wo sie kann.
Wie haben Sie Ihre Frau kennengelernt?
1973 lernten wir uns in einer Disco kennen, wie es damals üblich war. Wir gingen tanzen. Heute sind wir seit 50 Jahren verheiratet.
Jetzt haben Sie eine Menge Zeit. Was machen Sie gemeinsam mit dieser Zeit?
Wir gehen viel spazieren, oft hier am Rhein. Ich versuche immer, das mit der Suche nach Stöcken für meine Makramee-Projekte zu verbinden. Treibholz ist wunderschön, sehr glatt und sauber. Dann trockne ich es bei mir zu Hause und schleife es ein wenig ab. Wenn es die Zeit erlaubt, machen wir auch einen Spaziergang durch den Wald oder über die Felder.
Sie kommen immer noch in Zeitnot?
Ja, aber nicht nur von meiner Seite aus, sondern auch von der meiner Frau. Der Haushalt ist eine Menge Arbeit. Sie hilft mir auch mit dem Makramee. Sie schneidet die Fäden immer auf die Länge, die ich brauche. Dann liegen sie bereit, wenn ich flechten will.
Woran denken Sie, wenn Sie flechten?
Ich habe immer ein Bild in meinem Kopf, wie das Stück am Ende aussehen soll. Dann beginne ich zu knüpfen und hoffe, dass es so bleibt. Wenn ich knüpfe, bin ich in meinen Gedanken versunken. Ich muss immer zählen und darauf achten, dass ich die richtige Reihenfolge einhalte.
Das klingt fast wie Meditation.
Ja, ein bisschen. Ich höre und sehe nichts als mein Makramee. Neben mir kann sonst noch etwas passieren, aber das interessiert mich im Moment nicht.
Und die negativen Gedanken?
Früher konnte ich sie nie abschalten, egal was ich tat. Ich saß dann in meinem Stuhl und war traurig. Mit Makramee fällt es mir leichter, mich von negativen Gedanken zu lösen. Ich bin wieder positiver und ruhiger geworden.
Sie haben als „Makramee Opa“ auch eine Menge Follower auf Instagram.
Der Kontakt mit Menschen auf Instagram hat mich auch wieder aufgemuntert. Nach dem Renteneintritt war der Kontakt zur Außenwelt verschwunden. Ich finde es immer noch toll, dass die Leute mir schreiben.
Was schreiben Ihnen Ihre Follower?
Ich bekomme zwischen 40 und 100 Nachrichten pro Tag auf Instagram. Sie schreiben immer: „So einen Opa hätte ich auch gerne“. Oder „Du bist unser Opa“.
Freuen Sie sich darüber?
Natürlich freue ich mich darüber. Aber ich kann nicht für jeden ein Opa sein. Ich habe aber auch Liebesanfragen erhalten.
Von wem?
Eine junge Frau schrieb mir, dass ihre Mutter auch Rentnerin und einsam ist. Ich wäre eine gute Ergänzung für sie, wir sollten uns einmal treffen. Sie hatte wahrscheinlich nicht gelesen, dass ich glücklich verheiratet bin.
Sind Follower echte soziale Kontakte?
Ja, das würde ich so sagen. Andere sehen das vielleicht nicht so, sie sagen, dass E-Mails und Nachrichten keine persönlichen Kontakte sind. Aber ich freue mich über jeden, der mir im Internet folgt. Das gibt mir einen sozialen Kontakt, vielleicht keinen persönlichen. Sie sehen meine Bilder und ich sehe ihre Bilder. Wir sind also schon miteinander in Kontakt.
Können Onlinefreundschaften echte Freundschaften ersetzen?
Nein, das können sie nicht. Dafür sind sie zu oberflächlich. Aber es ist trotzdem schön, dass es sie gibt.
Haben Sie in Mannheim Freunde?
Nein. Ich war früher nicht so ein Freundschaftspfleger. Ich hatte einen besten Freund, als ich jung war. Aber dann habe ich geheiratet, und er ist nach Berlin gezogen. Das hat sich dann aufgelöst. Am Ende gab es keine Freunde mehr.
Warum eigentlich?
Wir hatten vier Kinder. Zusätzlich zu meinem Job arbeitete ich auch auf dem Bau, um genug Geld zu verdienen. Ein paar Jahre lang habe ich auch samstags und sonntags gearbeitet, um über die Runden zu kommen. Mit einem Vollzeitjob und einer Familie bleibt da nicht viel Zeit für Freundschaften.
Vermissen Sie Freundschaften, jetzt, wo Sie mehr Zeit haben?
Nein. Man kann nur vermissen, was man verloren hat. Das habe ich schon so lange nicht mehr gehabt, dass ich es nicht vermissen kann.
Haben Sie noch ein enges Verhältnis zu Ihren Kindern?
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Meine Kinder helfen mir sehr viel. Ich glaube auch, dass sie das von meiner Frau übernommen haben. Sie hat elf Geschwister. Sie war immer für ihre Geschwister und Eltern da.
Nicht alle Eltern haben das Glück, von ihren Kindern unterstützt zu werden.
Ja, aber es fühlt sich nicht immer gut an. Manchmal fühle ich mich, als wäre ich 100 Jahre alt – als könnte ich nichts mehr alleine machen. Die Kinder wollen helfen und alles machen. Obwohl ich immer noch Bäume fällen könnte. Das kommt mir total seltsam vor.
Wie gehen Sie damit um?
Es hat sich eingespielt. Jetzt sitze ich da und gebe Anweisungen und lasse den Chef raushängen (lacht). Aber am Anfang war es ein Kampf.
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