: „Kumuliertes Unterschichtsproblem“
Alisan Genc, Projektleiter des Zentrums für Interkulturelle Berufs- und Beschäftigungsförderung (ZIBB), über Migrantenökonomie und ihren Einfluss auf die Stadt. Die Nischenökonomie auch als Startchance für Neuankömmlinge
taz: Herr Genc, was ist für Sie die ideale Stadtstruktur: gemischte oder ethnisch getrennte Viertel?
Alisan Genc: Das hängt davon ab, wie man das Selbstbestimmungsrecht auch für die Zugewanderten auslegt. Wenn man es für alle ernst nimmt, kann man niemandem das Recht verweigern, in Kiezen und eigenen ethnisch bestimmten Communities zu leben.
Waren Stadtviertel mit starker Ballung türkischer Migranten notwendig, damit sich überhaupt ein türkischer Mittelstand entwickeln konnte?
Unbedingt. Welchen Ausgangspunkt sollten denn sonst Unternehmensgründer nichtdeutscher Herkunft haben? Die große Masse der Unternehmer hat zuerst die eigene Bevölkerungsgruppe bedient, hat deren Bedürfnisse als Geschäftsgrundlage angesehen. Die möchten aber natürlich jetzt auch expandieren, das liegt in der Natur der Sache.
Wie schätzen Sie die Entwicklungstendenzen in der türkischen Community in Berlin ein – tendiert sie eher zur ethnischen oder zur Nischenökonomie?
Weite Teile der türkischen Ökonomie haben zurzeit eher den Charakter einer Nischenökonomie. Es gibt aber auch positive Zeichen. Immer mehr Selbstständige oder auch Kleinunternehmen brechen aus der Nischenökonomie aus und entwickeln sich zu einer ethnischen, die sich an jedes Publikum wendet, das zahlungskräftig ist.
Die türkische Ökonomie hilft türkischen Neuankömmlingen bei der Integration. Trägt sie auch zur deutsch-türkischen Interaktion bei?
Zuwanderer kommen ja, um zu arbeiten. Aber der Arbeitsmarkt in Deutschland ist nicht so, dass er Zuwanderer aufnehmen kann, die nicht hoch qualifiziert sind. Die Masse der Neuzuwanderung erfolgt im Rahmen der Heiratsmigration, es sind Familienangehörige, die in der Regel entweder über keine berufliche Qualifikation verfügen oder berufliche Kentnisse haben, die sie hier nicht verwerten können. Diese Menschen werden vom deutschen Arbeitsmarkt nicht aufgenommen. Türkische Selbstständige neigen eher dazu, Neuankömmlinge einzustellen als Alteingesessene, denn viele türkische Unternehmer kommen mit der Mentalität der hier aufgewachsenen Migrantenjugendlichen nicht klar. Oft beziehen die Arbeitslosenhilfe und sind nicht direkt auf den Job angewiesen, haben weniger Arbeitsdisziplin, zeigen keinen Arbeitseifer. Die Neuankömmlinge schon. Sie sind auch bereit, zu niedrigen Standards und für geringere Bezahlung zu arbeiten. Es gibt auch viele türkischstämmige Unternehmer, die deutsches Personal einstellen wollen, weil sie sich für die deutsche Kundschaft öffnen möchten. Aber sie können oft die marktüblichen Gehälter nicht zahlen.
Wie ist das in Berlin? Florieren die türkischen Unternehmen hauptsächlich in Kreuzberg, oder gibt es auch andere Standorte, wo es gut läuft?
Alle ausländerfeindlichen und rassistischen Angriffe in Ostberlin und dem Berliner Umland haben die Türken nicht davon abgehalten, dort ihren wirtschaftlichen Standort zu verteidigen. Es gab grausame Ereignisse, aber ich kenne niemand, der aufgegeben hat. Es gibt Fälle, wo die Imbissbude abgebrannt wurde, wo es mehrmals am Tag zu Angriffen kam. Aber die Leute halten den Standort, lassen sich nicht verdrängen.
Nimmt die Ausbildung mittlerweile einen höheren Stellenwert in der Community ein? Woran liegt es, dass 70 Prozent die Schule ohne Abschluss oder nur mit Hauptschulabschluss verlassen?
Das liegt an den Grundproblemen, die die Ausländerbeschäftigung in Deutschland mit sich gebracht hat. Wir haben hier ein kumuliertes Unterschichtsproblem. Deutschland hat aus der Türkei weitgehend Unterschichten rekrutiert. Das geschah auch ganz bewusst, die sollten in Betrieben eingesetzt werden, um die niedrigsten, schmutzigsten Jobs anzutreten. Die sollten ja dann auch später wieder zurückkehren.
Aber das war die erste Generation. Wir reden jetzt von der zweiten, der dritten . . .
Es ist in der Soziologie eine gesicherte Erkenntnis, dass in der Regel die Mehrheit der Kinder auch die Lebenskarriere ihrer Eltern fortsetzt. Wir leben noch nicht in einer Gesellschaft, in der die Angehörigen von Unterschichten mehrheitlich in eine höhere Schicht gelangen können. Auch bei den Deutschen nicht.
Pisa hat das ja bestätigt . . .
Wir haben zum Beispiel ausgerechnet, dass der Anteil von Unterschichtlern in der türkischen Community 90 Prozent beträgt. Das heißt, es werden viele Phänomene, die schichtenspezifisch sind, ethnisiert. All die Probleme, die wir hier haben, gibt es auch in deutschen Schichten, die man als Unterschicht bezeichnen kann. Aber bei den Deutschen werden sie nicht ethnisiert.
Die Arbeitslosigkeit bei den Türken in Kreuzberg liegt bei 40 Prozent . . .
Wer aus einem Elternhaus stammt, wo die Eltern keinerlei Berufsausbildung haben, der wird oft auch selbst keine haben, weil ihm entsprechende Leitbilder fehlen.
Ist die ethnische Ökonomie dann eine gute Lösung? Da bleibt ja alles noch mehr in der Familie, und man kommt gar nicht mehr heraus . . .
Die ethnische Ökonomie ist da eher eine Falle. Wenn der Staat da nicht bewusst agieren kann und qualifiziertes Personal ausbildet und diesem Sektor zuführt, dann werden sich niedrige Standards etablieren. Die Frage ist, ob die öffentlichen Stellen erkennen, dass Wirtschaftförderung sich nicht nur auf deutsche Mittelstandsunternehmen bezieht.
INTERVIEW: ANNA SCHAFFNER
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