Kulturwissenschaftler Aby Warburg: Die Spannung der Gegensätze
Im Warburg-Haus lebt der Geist des Hamburger Bankierssohns und Kulturwissenschaftlers Aby Warburg weiter. Der wäre in diesem Jahr 150 Jahre alt geworden.
Für den jüdischen Bankierssohn, Kunsthistoriker und Mitbegründer der Kulturwissenschaften zählte bei aller architektonischer Durchdachtheit und Finesse vor allem die Funktionalität, die der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek dienen sollte – und ihren Besuchern.
Schon früh begeisterte sich der vor 150 Jahren geborene Aby – eigentlich Abraham – mehr für die Forschung als fürs Bankwesen: Als 13-Jähriger trat er seinem Bruder Max das Erstgeborenenrecht ab unter der Bedingung, dass dieser ihm sein Leben lang alle Bücher kaufen würde, die er, Aby, haben wollte. Diesem Handel ist die Entstehung der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek zu verdanken, die heute ein Ort des interdisziplinären Austausches ist und noch stärker werden soll.
Die Bibliothek sollte Abys Genesung dienen
Dabei hatten die Brüder die Bibliothek ursprünglich zur Heilung des seelisch und körperlich fragilen Aby initiiert. Warburg war unter den Bedrohungen des Ersten Weltkrieges und den ökonomischen und sozialen Problemen der Nachkriegszeit zusammengebrochen. Zwei Jahre, von 1921 bis 1923, verbrachte er im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen.
Die Forschung und seine unbändige Neugier, die von antiker Kunst über fremde Kulturen bis zu Briefmarken und Werbeplakaten reichte und sich auf alles erstreckte, was bildhaft war: All dies war immer wieder der Motor, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Depression zu ziehen. Entlassen wurde Warburg, als er vor Ärzten und Patienten einen Vortrag über das Schlangenritual der Hopi-Indianer hielt.
1926 wurde dann die Kulturwissenschaftliche Bibliothek in der Heilwigstraße 116 eingeweiht, direkt neben seinem Wohnhaus, Nummer 114; beide waren durch einen Durchgang verbunden. Bei der Konzipierung des Hauses arbeitete Warburg eng mit dem Architekten Gerhard Langmaack zusammen, den ihm Fritz Schumacher empfohlen hatte, selbst einflussreicher Architekt und viele Jahre lang Hamburgs Oberbaudirektor.
In der Bauweise der Bibliothek spiegeln sich sowohl Warburgs theatralisches Gemüt als auch sein Bewusstsein um das Erbe der Ökonomendynastie und ihrem Sinn für Effizienz wider: Vier säulenähnliche Vorsprünge zieren die Front des Hauses, eine Anlehnung an die tempelartige Architektur vieler Bankhäuser jener Zeit. Dazwischen wurden die Buchstaben K – B – W gesetzt, für „Kulturwissenschaftliche Bibliothek“.
Den Eingang flankieren zwei Lichtstelen, von Warburg als „Leuchtfeuer der Aufklärung“ inszeniert. Und damit jeder gleich wusste, worum es in der KBW ging, ließ er über der Tür zum Eingangsfoyer in griechischen Buchstaben das Wort „Mnemosyne“ ein, womit er sein großes Forschungsthema bezeichnete: das Nachleben der Antike in der europäischen Kultur.
Einen Bestand von 120.000 Bänden sollte die Bibliothek fassen können. Um ausreichend Platz zu schaffen, ließ Warburg das Haus quasi halbieren: In der Vorderhälfte, wo die Büros untergebracht lagen, gab es drei Stockwerke, das Archiv selbst hatte vier Stockwerke mit tiefergezogenen Decken.
Das Herzstück des Warburg-Hauses aber war und ist der elliptische Lesesaal, dessen Ovaloid an der Decke für die Spannung zwischen zwei Polen stand, für Warburg das Sinnbild wissenschaftlichen Denkens. Dort wurde studiert, es wurden aber auch Vorträge gehalten und der interdisziplinäre Austausch gepflegt, den Warburg so konsequent wie wenige andere Wissenschaftler seiner Zeit kultivierte. Er selbst hatte ein massives Schreibproblem: Wissenschaftliche Veröffentlichungen hinterließ er kaum. Dafür war er ein mitreißender Redner, der die Besucher seiner langen Vorträge manchmal an die Grenzen der Belastbarkeit brachte.
Wer ein Buch bestellte, bekam benachbarte mitgeliefert
Wenn aber studiert wurde, dann sollte das mit der größtmöglichen Ruhe und Effizienz geschehen: Im „Denkraum der Besonnenheit“ sollten keine quietschenden Bücherwagen die Studien stören. Daher erfand Warburg ein ausgeklügeltes System aus zwei Bücherfahrstühlen und 28 Telefonen, mit denen die Bibliotheksbesucher sich die gewünschten Exemplare von den Angestellten des Hauses liefern ließen. Geordnet wurde nicht alphabetisch oder chronologisch, sondern nach dem „Prinzip der guten Nachbarschaft“: Wer ein Buch bestellte, bekam weitere Bücher mitgeliefert, die ihn wahrscheinlich auch interessieren würden.
Warburg selbst konnte seine Bibliothek nur kurz nutzen: 1929 starb er an einem Herzinfarkt. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die Kulturwissenschaftliche Bibliothek in der Heilwigstraße aufgelöst: Vorausschauend ließ man die 60.000 Bände 1933 nach London bringen, wo heute das Warburg Institute einen Bestand von 320.000 Bänden zählt.
Danach geriet der Geist der KBW über 60 Jahre lang in Vergessenheit. Der Käufer der Häuser in der Heilwigstraße nutzte das Wohnhaus und vermietete die Nummer 116 an Werbefirmen oder die Neue Deutsche Wochenschau Gesellschaft mbh, die im Keller dann die erste „Tagesschau“ produzierte. In den Lesesaal kamen zusätzliche Decken, vom ursprünglichen Zustand war nichts mehr zu erkennen.
Dass das Warburg-Haus rekonstruiert und wieder zu einem Ort der Wissenschaft wurde, ist vor allem Martin Warnke zu verdanken: Den berief 1978 die Hamburger Universität zum Professor für Kunstgeschichte. Durch ein hektografiertes Zettelchen einer Volontärin am Denkmalamt wurde er auf das Warburg-Haus aufmerksam und setzte sich mit seinen Kollegen Horst Bredekamp und Klaus Herding dafür ein, es wieder zu errichten
„Ich habe damals zur Warburg-Propaganda eine große Tagung gemacht, und Klaus von Dohnanyi, der ja durchaus Sinn fürs Intellektuelle hatte, fing Feuer“, erinnert sich Warnke an einen ehemaligen SPD-Bürgermeister. Die Stadt Hamburg kaufte das Haus, Gertrud und Jan Philipp Reemtsma sowie die Mäzene Rita und Hans Reimer wurden Gründungsstifter.
Sogar Detailzeichnungen waren erhalten
„Unser großes Glück war, dass der Sohn des Architekten noch lebte“, sagt Warnke. „Der hatte alle Zeichnungen des Vaters bis in die Profile der Holzstücke hinein aufbewahrt, sodass wir das Haus wortwörtlich wiederherstellen konnten.“ Auch Warburg hatte als Archivar ganze Arbeit geleistet: Um seinen Brüdern den Baufortschritt zu dokumentieren, ließ er zahlreiche Fotografien machen. Seinem Tagebuch entnahmen die akribisch recherchierenden Forscher, dass der Boden „jaspisgrün“ gewesen sein musste.
1995 wurde das Warburg-Haus wiedereröffnet, neben der Bibliothek zur politischen Ikonografie und den Veranstaltungen im Lesesaal beherbergt das Haus nun auch die jährlich wechselnde Warburg-Professur.
Seit 2015 hat sich das Haus mit einem dreiköpfigen Direktorium neu aufgestellt: Der Kunsthistoriker Uwe Fleckner, die Philosophin Birgit Recki und die Germanistin Cornelia Zumbusch, Professoren allesamt, wollen es wieder stärker öffnen, zum Dialog einladen. „Warburg lebt“ heißt konsequenterweise die derzeit laufende Veranstaltungsreihe zum 150. Gründer-Geburtstag.
„Warburg selber war ja jemand, der im Gespräch Dinge produzieren konnte, die er schriftlich nicht produzieren konnte. Die Lebendigkeit dieses Hauses liegt in seinem Raum für Austausch“, sagt die Germanistin Zumbusch. Sie plant ein Programm mit mindestens einem Vortrag pro Monat, das unterschiedliche Disziplinen zu Wort kommen lässt; ganz im interdisziplinären Sinne Warburgs.
Als zentrales Thema hat man „Latenz“ gesetzt, „als Neuformulierung eines Ur-Warburg’schen Problems“, so Zumbusch: „Wie passiert es, dass Bilder in Vergessenheit geraten, und wie wirken sie unterschwellig weiter?“ Was Warburg einst „Mnemosyne“ oder „kulturelles Gedächtnis“ genannt habe, sei ja ein höchst aktuelles Thema: „Die Welt verändert sich rasant und immer schneller, und man fragt sich: Was passiert mit dem, was vorher war? Das heißt ja auch letztlich: Wie denken wir Fortschritt?“
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