Kultur auf einer Brache in Moabit: Ein Vogelhäuschen in der Wüste

Nora Spiekermann bespielt ihren „Offenen Kanal Europa“ in einem ehemaligen Imbiss in der Heidestraße. Die Künstlerin beobachtet und mischt sich ein.

Künstlerin Nora Spiekermann vor ihrem „Offenen Kanal Europa“, der in einer alten Imbissbude Platz fand

Nora Spiekermann vor ihrem „Offenen Kanal Europa“, der in einer alten Imbissbude Platz fand Foto: Dagmar Morath

BERLIN taz | Ein Auto nach dem anderen schiebt sich aus dem Tiergartentunnel durch die Heidestraße in die nördlichen Stadtteile Berlins – und wieder zurück. Wer sich in diesem Teil Moabits nördlich vom Hauptbahnhof verirrt, der gewinnt leicht den Eindruck, als sei er gar nicht in Berlin ausgestiegen. Eher meint man, sich in einem jener gesichtslosen Geschäftszentren zu befinden, wie es sie etwa in Frankfurt am Main gibt. Trostlose Bürogebäude, „Residenzen“ zum Leben, aber ohne Leben, Cafés oder Läden im Parterre. Schmale Bürgersteige, Menschen in Eile.

Doch plötzlich, mitten in der Ödnis: ein Lichtblick. Auf einer der letzten Brachen, die noch nicht voll gebaut sind: weißer Kies. Blumen in schwarzen Putz­eimern. Möbel aus Europapaletten. Auf einer Art Bretterbude mit gelben Kästen wie Vogelhäuschen steht ein Schild mit dem Schriftzug „Offener Kanal Europa“.

Die Künstlerin Nora Spiekermann sitzt auf einer Bierbank vor ihrem neuen Kunstprojekt und lacht. „Ich hatte großes Glück, dass ich diesen Imbiss gefunden habe“, sagt sie. „Eigentlich habe ich gar nicht so viel daran geändert.“

Schon seit Anfang Mai und bis mindestens Ende Juni betreibt Nora Spiekermann, die in Weimar Kunst studiert hat, an diesem Ort etwas, das bislang noch kaum einer in diesem luftleeren Raum, in der so genannten Europacity, betrieben hat. Sie bietet digitalen und physischen Austausch für Neuankömmlinge und Alteingesessene, Essen zum Mitnehmen und Sozialforschung. Sie verwickelt in ihrer unkomplizierten, fröhlichen Art Passanten in Gespräche, interviewt Anwohner und stellt die Videos anschließend unter https://offener-kanal.eu/ ins Netz. „Seit 2014 bin ich hier unterwegs“, sagt sie, „und beobachte, was passiert.“

SAP investiert 200 Millionen Euro

Tatsächlich ist seitdem ziemlich viel passiert in diesem Areal. Mitten in Berlins Zentrum entsteht hier – weitgehend unbeachtet von der Stadtgesellschaft übrigens – ein völlig neues Viertel. Ähnlich wie vor zwanzig Jahren der Potsdamer Platz, soll das Viertel Ost- und Westberlin auch an dieser Stelle endlich verbinden. 300.000 Quadratmeter Wohnfläche für mindestens 2.000 Menschen, Kitas, Schulen, Supermärkte. Über 10.000 Arbeitsplätze soll es hier eines Tages geben.

Erst im Herbst wurde bekannt, dass SAP rund 200 Millionen Euro in einen neuen Standort in der Europacity investieren will. Ab Ende 2022 sollen auf einem „Campus“ 1.200 Mitarbeiter arbeiten. 2007 hat der Bund das Entwicklungsgebiet an die österreichische Immobiliengesellschaft CA Immo verkauft.

Als 2008 der Senat für seine Bebauung einen Wettbewerb durchführte, gab es noch keine Mindestquote von 25 Prozent gefördertem Wohnungsbau. Auch ist noch unklar, ob es für das riesige Gebiet zwischen Gesundbrunnen und Hauptbahnhof einen weiteren S-Bahn-Halt geben wird. Von den beiden Brücken, die das Areal wenigstens ansatzweise mit dem Rest der Stadt verbinden könnten, ist bislang nichts zu sehen. Das Viertel war anfangs gemischt geplant: mit Wohnen, Büro, Einzelhandel, Kunst. Aber das, was sich heute KunstCampus nennt, ist nichts als ein leerer Platz, gesäumt von teuren Büro- und Luxuswohnhäusern.

Bibliotheken? Bolzplätze? Kirchen oder Moscheen? Nachbarschaft? Fehlanzeige. „Hier werden keine netten, öffentlichen Räume entstehen, niedrigschwellige Plätze, die wirklich funktionieren, wo man kein Geld ausgeben muss“, sagt Nora Spiekermann.

Viele kommen aus London oder Oslo

Sie kennt die Menschen, die in dieser Gegend bislang aufgeschlagen sind, inzwischen ganz gut. Bislang sei sie keinem begegnet, dem die Wohnung, in der er wohnt, auch gehört, erzählt Spiekermann. Angeblich gingen die Wohnungen für 7.000 Euro den Quadrat­meter über den Tresen.

Viele, die hier wohnen, so Spiekermann, „kommen aus London oder aus Oslo, wo sie ganze andere Preise gewohnt sind“. Sie seien oft jung, zwischen 20 und 30 Jahre alt, nur auf der Durchreise für einen Job, der bald von einem anderen abgelöst werden werde. Andere haben in ihren Kiezen in Wedding oder Charlottenburg schlicht nichts mehr gefunden, wollten aber auch nicht rausziehen aus ihrer Stadt und warten jetzt auf etwas Besseres.

Viele wissen nicht einmal, dass ihr Viertel „Europacity“ heißt. „Ich finde, die Einwohner werden hier total verheizt, so wie um 1900 die Trockenmieter“, sagt die Künstlerin. „Offener Kanal Europa, das ist für mich wie ein Aufruf an die Leute hier“, fügt sie an.

Während Spiekermann von ihrem Projekt erzählt, das sie anfangs komplett selbst finanzierte und für das sie nun etwas Förderung bekommt, braust der Verkehr vorbei. Wie soll hier je ein urbaner Boulevard entstehen, wo man sich trotz Lautstärke gern aufhält? Die gut gelaunte Frau interessiert sich für die Geschichte des ehemaligen Containerbahnhofareals, das für sie auch lang wie eine dieser Berliner Brachen wirkte, wo alles möglich schien.

Kaltschale aus Gurken und Roten Beten

Der Blick wandert zu den Rieck-Hallen, die erst kürzlich wieder durch die Presse gingen. Denn Friedrich Christian Flick, seit April ist es amtlich, zieht seine umstrittene Sammlung aus Berlin ab, weil der Mietvertrag für die Rieck-Hallen ausläuft. Die CA Immo will die Hallen abreißen und das Grundstück wirtschaftlich verwerten.

Nora Spiekermann, Künstlerin

„Ich finde, die Einwohner werden hier total verheizt, so wie um 1900 die Trockenmieter“

Wir gehen in das Vogelhaus hinein, wo eine Mitstreiterin Spiekermanns gerade eine Kaltschale aus Gurken und Roten Beten zubereitet, für das Essen zum Mitnehmen, das es am Abend gibt. Spiekermann macht ein bisschen mit, während sie weiterspricht.

Ihr Blick geht auch auf eine der letzten alten Berliner Mietskasernen, die zur Hälfte leer steht, wie Spiekermann vermutet. Kürzlich hat sie einen Mieter kennen gelernt, der in einem Haus etwas weiter als Allerletzter in einem alten Haus lebt, das völlig leer gezogen wurde.

Und trotzdem ist das alles für die Künstlerin kein Grund, nostalgisch oder gar melancholisch zu werden. „Manchmal finde ich es gerade interessant an Orten, wo scheinbar alles gelaufen ist“, sagt sie und lacht wieder. „Man kann doch immer was machen, oder nicht?“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.