Kultur- und medienhistorische Studien: Die Gewalt des Begehrens
Die Zeitschrift Fotogeschichte untersucht mögliche „Grenzüberschreitungen“ von Mode und Fotografie. Und auch unmögliche.
Als Cindy Sherman 2007 für die französische Vogue eine Fotostrecke mit Mode von Balenciaga fotografierte, war die Welt der visuellen Information über Mode, so könnte man sagen, noch in Ordnung. Seitdem ist sie ziemlich unübersichtlich, da aufgrund mobiler Apps und Social Media deutlich vielfältiger geworden. Modeblogs und soziale Netzwerke mit ihren Influencern sind heute maßgebliche Größen im Modebereich.
Der Begriff Influencer stammt übrigens aus dem Jahr 2007. Grund genug für die Zeitschrift Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie bis zu diesem Zeitpunkt einmal die „Grenzüberschreitungen“ von Mode und Fotografie zu untersuchen.
Zunächst interessiert Andrea Kollnitz und Friedrich Weltzien die Rolle der surrealistischen Modefotografie bei der italienischen Malerin Leonor Fini und dem deutschen Künstlers Wols. Auf je unterschiedliche Weise bot der Surrealismus ihrer Praxis Durchlässigkeit: Zwischen Hoch- und Gebrauchskunst, zwischen Boheme und Kommerz, und zwischen den Geschlechtern, durch „Androgynie, Animalisierung, Verdinglichung und Rollenspiel“, wie die Autoren feststellen.
Ebenfalls in den 1930er Jahren angesiedelt ist das Thema des Aufsatzes von Antje Kraus-Wahl über Textilien in der Modefotografie. Zu dieser Zeit spielten Materialien und Materialinnovationen sowohl in der Haute Couture als auch im Bereich der Konfektion eine zentrale Rolle. Man experimentierte viel mit synthetischen Materialien, etwa gummierten Garnen für Stretchstoffe, mit Metallfäden, sogar mit Cellophan. Um ihre Leserinnen über diese Textilinnovationen zu informieren, konzipierten Harper’s Bazaar und Vogue, so die Autorin, entsprechend spezielle Fotostrecken.
Dann definiert Anti-Glam die Modefotografie
Mit Annette Geigers Untersuchung zur Modefotografie von Guy Bourdin sind die 1970er Jahre erreicht. In Hinblick auf die von sexueller Gewalt und Glamour nur so triefenden Inszenierungen Bourdins, kommt Geiger zum Schluss, hier werde keineswegs phallische Macht im bekannten Sinn ausgestellt, etwa entsprechend Lacans Theorie „den Phallus haben“ (Mann), „der Phallus sein“ (Frau). Vielmehr spitze Bourdin das Setting so zu, dass die Gewalt des Begehrens allein von Mode und Konsum ausgehe.
Zwei Dekaden später definiert Anti-Glam die Modefotografie. Bis in die 1990er Jahre ist die Geschichte der Modefotografie die Geschichte der Fotografen und Fotografinnen, die für Vogue und Harper’s Bazaar arbeiteten. Dann aber haben plötzlich unabhängige, subkulturellen Strömungen wie Post-Punk entstammende Magazine die Definitionsmacht im Modegeschehen. Eine Revolution. Juergen Teller wie Wolfgang Tillmans, deren frühe Arbeiten Charlotte Silbermann untersucht, arbeiteten für solche Magazine, allen voran i-D und The Face.
Die Amerikanerin Taryn Simon (*1975) ist längst eine der wichtigsten Künstlerinnen der Gegenwart. Was weniger bekannt ist: Sie startete als Modefotografin, und nach Katharina Zimmermann und Anne Söll erwuchs ihr Archiv unserer Tragödien, also ihre fotografisch-künstlerischen Recherche- und Installationsarbeiten, just dieser Arbeit mit der Mode. Kein Trickle-down-Effekt von Kunst zur Mode, sondern ein Bubble-up-Phänomen von Modeüberlegungen hin zur Kunst.
Faszinierend die Gegenüberstellung eines 2000 entstandenen Modefotos für Chloé, in dem sie scheinbar schon das Bild des zu Unrecht zum Tode verurteilten Calvin Washington vorwegnimmt, aus der Serie „The Innocents“ von 2002, die sie als Künstlerin berühmt machte.