Kultfilm-Screening zum Jubiläum: „Rocker“, Digger!
Vor 50 Jahren drehte Klaus Lemke seinen legendären Film „Rocker“. Der rockt immer noch und läuft einen Tag lang in 16 Hamburger Kinos.
„Gib Gas, Digger!“, sagt ein Rocker zum anderen in Klaus Lemkes Fernsehfilm „Rocker“ aus dem Jahr 1972. Und schreibt damit Sprachgeschichte: Laut Wörterbüchern ist es das erste Mal, das die heute unter Jugendlichen allgegenwärtige Anrede „Digger“ belegt ist.
Aber Lemke kann noch einen drauf setzten: Erst seit sein Film in Hamburg eine Renaissance erlebt und häufig gezeigt wird („Im Stadion vom FC St. Pauli haben alle so gebrüllt, dass sie den Film gar nicht verstehen konnten!“), ist auch das Filmzitat „Mach dich gerade!“ in den Hamburger Alltagswortschatz aufgenommen worden. „Den hab ich dann auf T-Shirts gesehen!“, sagt Lemke nicht ohne Stolz.
1972 kam der Münchner Klaus Lemke nach Hamburg, weil Freundinnen ihm erzählten, dass dort die „wilden Kerle“, nein: die „wirklich starken Männer“ wohnten. „Rocker“ ist sein Opus magnum und sein größter Erfolg, sowohl beim Publikum als auch bei der Kritik und Kolleg*innen. Der Regisseur Dominik Graf („Fabian“) erkennt in dem Film eine „Zeitenwende“ des deutschen Films: „Es war Fernsehen als pure Lebenserfahrung.“
Lemke ist ein Guerillero des deutschen Films, dreht seine Filme nur mit Laiendarsteller*innen und fängt mit der Kamera eine Realität ein, die so authentisch und dreckig ist, dass die Trennung zwischen Dokumentarischem und Fiktivem pedantisch und akademisch wirkt.
Ohne Drehbuch, Drehgenehmigungen und mit wenig Geld vom ZDF („Geld schadet nur!“) machte er mit „Rocker“ einen Film, der eine detailreiche und lebendig wirkende Detailstudie der Hamburger Rockerszene der frühen 1970er-Jahre ist, aber auch mit einer dramatischen Handlung bestes Erzählkino bietet: Rocker Gerd wird aus dem Gefängnis entlassen und hat Schwierigkeiten, sich in seiner Szene wieder zurechtzufinden; der Kleinkriminelle Uli legt sich mit einem Zuhälter an; Ulis 15-jähriger Bruder Mark rächt ihn gemeinsam mit Gerd in einer wüsten Schlägerei auf St. Pauli.
Nie peinlich amateurhaft
Für den Film hatte Lemke die Unterstützung der Rockergang „Bloody Devils“ gekauft, seine Darsteller*innen fand er dort. Dass das nie peinlich amateurhaft inszeniert wirkt, erklärt Lemke so: „Die fragen, was bekomme ich für die Szene zum Anziehen? Und ich sag: Wieso, bist du nackt? Und wenn die dann in ihren Klamotten vor der Kamera stehen, denken die: Das bin ich jetzt.“ Aus demselben Grund arbeitet Lemke ohne Drehbuch: „Ich lasse die Laien ihre eigenen Dialoge reden, und dann müssen die sagen, was sie denken.“
Weil es keinen falschen Ton in „Rocker“ gibt, rockt er noch immer. Das hat auch mit seinem Soundtrack zu tun: Zu Bildern von schäbigen St.-Pauli-Kneipen und Jugendlichen mit merkwürdigen Frisuren und Bärten gibt es Songs von den Rolling Stones, Elvis oder Santana. „Das konnte man damals nach dem Film auch so im Radio hören“, sagt Lemke.
Heute wirkt es wie ein Märchen, dass das deutsche Fernsehen solch ein wildes Werk finanziert hat. Aber einfach war die Zusammenarbeit wohl auch nicht, erzählt Lemke: „Wir waren glücklich, als das ZDF das dann überhaupt gesendet hat!“ Immerhin um 20.15 Uhr. Aber: „Auch das ZDF hat erst viel später gemerkt, was die da eigentlich haben“, sagt Lemke.
„Rocker“ von Klaus Lemke: So, 19. 6., von 11 bis 21 Uhr im Rahmen von „Eine Stadt sieht einen Film“ in 16 Hamburger Kinos. Infos auch zum Begleitprogramm: https://www.eine-stadt-sieht-einen-film.de/
Denn so richtig entdeckt wurde „Rocker“ tatsächlich erst vor rund zehn Jahren, in Hamburg. „Da gab es eine Retrospektive von mir im B-Movie und da haben die den Film dann immer wieder gezeigt“, sagt Lemke. Kultstatus erreichte er dann als Hamburger Antwort auf die „Rocky Horror Picture Show“: Regelmäßig lief der Film im Kiez-Kino 3001 und beim Open-Air-Kino im Stadion des FC St. Pauli am Millerntor.
Am Sonntag, den 19. Juni 2022, wird „Rocker“ in der Stadt wieder gefeiert: Zwischen 11 Uhr und 21 Uhr läuft er in 16 Hamburger Kinos. Lemke kann leider nicht kommen, weil er mit Corona im Bett liegt. Gute Besserung! Aber eine schöne Geste mit einem direkten Zitat aus dem Film sei hier dann doch angeregt: Wie wäre es mit einem Spalier aus Motorrädern vor einem der Kinos, Digger?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Studie zu Zweitem Weltkrieg
„Die Deutschen sind nackt und sie schreien“
Bodycams bei Polizei und Feuerwehr
Ungeliebte Spielzeuge