Kürzungen in Berlin: Soziale Infrastruktur unter Dauerbeschuss
Auch wenn Milliardenkürzungen ausbleiben, verheißen die nächsten Jahre nichts Gutes für den Sozialbereich. Ein Bündnis sagt Einsparungen den Kampf an.

Wegfallende Projekte, auslaufende Stellen und kein Plan, wie es im nächsten Monat oder Jahr weitergeht – für viele Beschäftigte im Sozialbereich ist die extreme Unsicherheit seit zwei Jahren Dauerzustand. Daran ändert auch der neue, großzügig durch Schulden finanzierte Doppelhaushalt nichts, fürchten die freien Träger, die sich in einem neuen Bündnis zusammengeschlossen haben, mit dem sie am Dienstag dauerhafte Perspektiven forderten.
„Der soziale Bereich steht sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene unter Druck“, sagt Markus Galle, Pressesprecher der Arbeiterwohlfahrt, der taz. Die AWO ist Mitinitiator des neuen Bündnis Soziales Berlin. Wie viele seiner Kolleg:innen fürchtet Galle im neuen Doppelhaushalt weitere Einsparungen für den Sozialbereich. Am 11. September ruft das Bündnis daher zu einer Kundgebung vor dem Abgeordnetenhaus auf.
Ein Kahlschlag wie die drei Milliarden Euro, die in diesem Jahr aus dem laufenden Haushalt herausgekürzt wurden, soll laut dem Entwurf für den Doppelhaushalt 2026/27 zwar ausbleiben. Mehr Geld soll es allerdings auch nicht geben. „Auch Nullrunden sind Kürzungen“, sagt Galle. Lohn- und Betriebskosten würden ständig steigen. Da bliebe oft nur die Einschränkung des Angebots.
Angebote müssen schließen
Als Beispiel nennt Galle die erst vergangene Woche bekannt gegebene Schließung zweier Standorte der Migrationsberatung. Das Projekt wird vom Bund finanziert, der verlangt aber neuerdings einen Eigenanteil von 20 Prozent, mehr als der Träger leisten kann. Auch der Senat wollte nicht einspringen.
Dass in einem vergleichsweise üppig finanzierten Haushalt trotzdem zahlreiche freie Träger bangen müssen, liegt vor allem an der prekären Finanzierung des Sozialbereichs. Die Träger übernehmen staatliche Aufgaben wie Integrationsleistungen, Jugendsozialarbeit oder Obdachlosenhilfe. Dafür werden sie vom Staat bezahlt, allerdings oft in Form meist nur auf ein bis wenige Jahre befristeter Projekte. Meist kommen die Gelder auch noch von unterschiedlichen Stellen: Bund, Land, Bezirke.
Hauptverantwortlich für die Budgetsteigerung im neuen Rekordhaushalt sind vor allem feste Posten wie Gehälter und Pensionen. Hier kann der Senat nicht kürzen. Die befristeten Projekte, die noch dazu bei unterschiedlichen Senatsverwaltungen angesiedelt sind, lassen sich hingegen am schnellsten wegkürzen, wenn Geld eingespart werden muss.
So auch bei den Bezirken, die auch im aktuellen Haushaltsentwurf strukturell unterfinanziert sind. Oft bleibt den Verwaltungen nichts anderes übrig, als an den sozialen Projekten zu sparen, die sie freiwillig finanzieren – es sei denn, sie kriegen durch politischen Druck oder Rechentricks die Projekte doch noch weiter finanziert. Eine Zitterpartie, die sich für viele Träger auch im nächsten Jahr fortführen wird.
Zermürbende Unsicherheit
„Es macht Mitarbeitende mürbe und die Jugendlichen verängstigt“, sagt Bekkadour von Outreach. Nach jetzigem Stand sollen in Neukölln 15 Jugendeinrichtungen geschlossen werden – es sei denn, es ließe sich noch irgendwo Geld auftreiben. Problematisch sei auch, Kolleg:innen so langfristig zu halten oder gar neu einzustellen. „Du kannst keine Leute einstellen, wenn der Vertrag nur bis zum Ende des Jahres befristet ist“, sagt Bekkadour.
Dazu kommt, dass die Verwaltung kaum mit den Trägern kommuniziert, wann und wo gekürzt werden soll. „Es gibt eine große Diskrepanz, was die Politik sagt und was die Verwaltung macht“, kritisiert Galle. Oft würden einzelne Senatsvertreter:innen die Finanzierung eines Projekts zusagen, nur um von der Verwaltung einige Wochen später eine Ablehnung zu kassieren.
„Zum jetzigen Zeitpunkt ist keinerlei Verlass auf den Senat“, sagt auch Projektleiterin Bekkadour. Dabei hält gerade Vertrauen das dysfunktionale Finanzierungssystem im Sozialbereich am Laufen. Zusagen und Finanzierungsbescheide erhalten die Träger oft erst, nachdem die Projekte gestartet sind.
Damit sich die Träger trotzdem vorbereiten können, verlassen sie sich auf das Wort der Verwaltungen. So hat Outreach immer noch nicht alle Gelder für das laufende Jahr erhalten. „Kleinere Träger wären da schon zu Grunde gegangen“, sagt Bekkadour.
Unzuverlässiger Senat
Einen weiteren Wortbruch beging der Senat aus Sicht der Träger, indem die Tarifsteigerungen im öffentlichen Dienst nicht mehr ausfinanziert. Nach der letzten Tarifrunde steigen dort die Gehälter um 5,5 Prozent. Die Bezahlung der Beschäftigten der freien Träger orientierte sich bislang am Tarifvertrag ihrer Kolleg:innen im öffentlichen Dienst (TvÖD). Nun soll die Steigerung nur noch um 2 Prozent übernommen werden. Für Träger mit Tarifvertrag, der sich am TvÖD orientiert, bedeutet die Kürzung, Stellenabbau und eingeschränktes Angebot.
Es sei wichtig, sich gegen den Kahlschlag zu wehren, sagt Bekkadour, „Jeder Kürzung im sozialen Bereich müssen wir gemeinsam begegnen“. Erst vor zwei Wochen hat Outreach einen Protesttag unter dem Motto „Vallah Unkürzbar“ mitorganisiert. Jugendeinrichtungen in ganz Berlin blieben symbolisch geschlossen. Es wird wohl nicht die letzte Aktion bleiben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Wolfram Weimers Genderverbot
Weg mit dem Wokismus
Wolfram Weimers Gender-Verbot
Warum ich mich aus meiner Nationalsprache verabschiede
Parole „From the River to the Sea“
Anwält*innen fordern Ende der Kriminalisierung
Sprache in Zeiten des Kriegs
Soll man das Wort „kriegstüchtig“ verwenden?
Bürgergeld
Union und SPD setzen auf Härte gegen Arbeitsverweigerer
Wahlrecht in Deutschland
Klöckner will Reform der Reform