Künstlerischer Gentransfer: Zwischen K-Pop und Punk
Die interdisziplinäre Künstlerin Mizi Lee macht Musik mit ihrer Punk-Band Horizontaler Gentransfer. Und sie stellt im Kunstraum Bethanien aus.
Mit dem Kopf durch die Butterbreze. Nein, das ist keine neuartige Redewendung, sondern eine realitätsgetreue Beschreibung des Eingangs zur Ausstellung von Mizi Lee im Kunstraum Bethanien. Dort stellen die 15 Stipendiatinnen des Goldrausch Programms für die Förderung von Künstlerinnen ihre Werke aus. Zur Ausstellung mit dem Titel „I only work with lost and found“ hat Mizi Lee eine raumfüllende Assemblage beigetragen.
Den Türrahmen ziert ein Vorhang aus kleinen glänzenden Perlen, die sich mosaikartig zum Motiv einer Butterbreze zusammenfügen. Beim Hindurchschreiten gleiten einzelne Perlenstränge über die Stirn und nehmen hinter Besucher_innen mit einem leisen Klirren wieder Gebäckform an. Der Raum ist klein, aber so voll mit Artefakten, flimmernden Bildschirmen und unterschiedliche Texturen, dass eine Stunde kaum reicht, alles aufzunehmen.
Künstlerischer Gentransfer
Mizi Lee ist interdisziplinäre Künstlerin und Musikerin aus Südkorea. Heute lebt sie in Stuttgart, wo sie an der Kunstakademie studierte und die Punk-Band Horizontaler Gentransfer gründete. Gemeinsam mit Jerry Ahn, Seonha Park, Yun Park, Lilian Gonzalez und Hanseo Oh macht sie Musik, die herkömmlichen Punk um popkulturelle Referenzen und K-Pop Klänge erweitert.
Benannt ist die Gruppe nach einem biologischen Prozess. Allen, die nicht gerade Biologie studiert haben, hilft Chat-GPT auf die Sprünge: „Horizontaler Gentransfer (HGT) ist der Prozess, bei dem genetisches Material zwischen Organismen übertragen wird, die nicht in einer Eltern-Nachkommen-Beziehung stehen.“ Für die Band bedeutet das ein Verschmelzen der Grenzen der unterschiedlichen Disziplinen und Einflüsse der einzelnen Mitglieder. Es findet also eine Art künstlerischer Gentransfer statt. Dieser liegt der Ausstellung und dem 2023 veröffentlichten Debütalbum „Ereignishorizont“ zugrunde.
Zwar erhielt Mizi Lee das Stipendium, aber im Interview mit der taz wird klar: Mizi Lee arbeitet nicht allein, der Horizontale Gentransfer gehört dazu. „Für uns ist Kunst etwas Kollektives“, sagt auch Seonha Park und blickt in die Runde. Mizi, Yun, Lilian, Jerry und Hanseo nicken.
Mit Humor und Punk-Attitüde
Seit über zehn Jahren studiert Mizi Lee Kunst. Der Kunstakademie ging ein Bachelor in Bildender Kunst in Seoul voran. Inzwischen hinterfragt sie die elitären Strukturen des Kunstbetriebs. „Was ist das? Diese Kunstszene, dieser Ausstellungsscheiß? Es ist so steif. Immer eine Rede, immer Sekt. Darauf habe ich keinen Bock. Unsere Ausstellung ist punkig und locker. Wir wollen Spaß mit der Kunst haben.“
Dass Spaß und Punk-Philosophie großgeschrieben werden, zeigt sich auch bei den Auftritten von Horizontaler Gentransfer. Dabei kann es ganz schön krachen. In bunten Kostümen (gestaltet von Hanseo Oh) stehen Mizi Lee und Band auf der Bühne und besingen zu jaulenden Gitarren das Meckern der Deutschen, Bahnfahren, Bürokratie, zu hohe Semestergebühren und Bahnhof-Brezen für einen Euro und achtzig Cent.
In eingängige Songtexte gehüllt und mit Humor serviert, sprechen Horizontaler Gentransfer gesellschaftliche Probleme wie antiasiatischen Rassismus, Diskriminierung und Kolonialismus an. Der Song „Ching Chang Chong“ zum Beispiel schreit die rassistische Beleidigung gegen asiatisch gelesene Personen zurück ins Publikum. Dieses reagiert beim Eröffnungskonzert im Bethanien eher zögerlich, als Mizi Lee zum Mitsingen auffordert.
Für die Band ist Humor ein Weg, ihre Erfahrungen zu verarbeiten und sich gegen Diskriminierung zur Wehr zu setzen. Humor als Werkzeug des Empowerments und etwas, das die sechs Bandmitglieder gemeinsam haben, wie sich bei ihrem Herumalbern während des Interviews zeigt. „Humor ist so wichtig. In der Kunst und im Leben. Er macht schwere Situationen leichter. Wenn über harte oder ernste Themen gesprochen wird, zeigen Leute oft mehr Verständnis, wenn es auf eine humorvolle Art und Weise geschieht“, kommentieren die Mitglieder von Horizontaler Gentransfer.
K-Pop und Butterbrezeln
Auf ihrem Album inszenieren sie sich ironisch als „Moderatoren des Musikamts“. In kurzen Interludes interviewen sie sich gegenseitig, besprechen die Inhalte der Texte und musikalische Referenzen. „Musikamt“ ist dabei eine Anspielung auf deutsche Bürokratie und ihre strikten Regeln. In gespielten Interviews erzählt die Band, dass „Butter (Brezel)“ von der weltberühmten K-Pop Boygroup BTS inspiriert ist. Weitere musikalische Referenzen sind die K-Pop Gruppen Blackpink und aespa.
Neben dem Kunststudium in Stuttgart verbindet die Band nämlich die Liebe zum K-Pop. „Als Schülerin wollte ich cool sein und habe absichtlich keinen K-Pop gehört. Stattdessen habe ich Umberto Ecos Bücher gelesen – als ob ich die mit 14 verstanden hätte“, grinst die 1990 geborene Lee. „Erst in der Pandemie habe ich mich richtig mit K-Pop und seiner Bedeutung beschäftigt.“ Und das hat sowohl die Kunst als auch die Musik beeinflusst.
Inzwischen ist Mizi Lee tief in die K-Pop Materie eingetaucht. Sie hat dabei beobachtet, wie sich die Themen der K-Pop Bands verändert haben. Vor allem BTS habe einen Umschwung mit sich gebracht. Die wahrscheinlich bekannteste K-Pop Band hat eine weltweite Fangemeinde und ihre Songs werden mehrere Millionen Mal gestreamt. „Früher ging es meistens um Sex oder Liebesbeziehungen. Jetzt geht es mehr um Themen wie Selbstliebe und Weltfrieden“, so Mizi Lee. „K-Pop ist auch etwas Besonderes für Personen aus asiatischen Ländern. Zu sehen, wie Personen, die wie wir aussehen, zu internationalen Superstars mit so einer großen Reichweite werden, ist ermutigend.“
Die Geschichte des koreanischen Schlagers
Auf ihrem 2025 erwarteten Album „Everything PossiBBong“ erweitern Horizontaler Geldtransfer ihr musikalisches Repertoire um einen Abstecher in die Welt der Schlager – neben Butterbrezel und Bier wohl eines der zentralen deutschen Kulturgüter. „Deutscher Schlager ist dem japanischen und koreanischen Schlager sehr ähnlich“, sagt Mizi Lee. „Da gibt es einen interessanten historischen Zusammenhang. Wir haben herausgefunden, dass ein deutscher Komponist während des Zweiten Weltkriegs Militärmusik für Japan komponiert hat. Diese wurde dann, durch die japanische Besetzung, nach Korea gebracht und hat die lokale Musikszene beeinflusst.“
Horizontaler Gentransfer: „Ereignishorizont“ (sternengruppe)
Die traditionelle koreanische Musikrichtung wird auch Trot, Ppongjjak oder umgangssprachlich Bbong genannt. Für Mizi Lee ist das eine schmerzhafte Verbindung. „Wir lernen viel darüber, wie wir unter japanischer Herrschaft und im Krieg vernichtet wurden. Das hat die gesamte koreanische Kultur geprägt. Ich selbst trage viel des Traumas in mir, obwohl ich den Krieg nicht selbst erlebt habe. Die Selbstliebe, die K-Pop-Songs jetzt in den Vordergrund rücken, ist für mich eine Art der Heilung dieses Traumas“, sagt sie.
Obwohl viele Augen auf Koreas K-Pop-Szene gerichtet sind, wird selten auf die Geschichte der Kultur des Landes geblickt. Horizontaler Gentransfer nutzen ihre Arbeiten, um das zu ändern. So ist auch ihre Musik in politische und soziohistorische Kontexte gebettet.
In Berlin performten sie auf der Gedenkfeier an die sogenannten Trostfrauen – koreanische Frauen und Mädchen, die unter japanischer Besatzung sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren. Es ist auch ein Kampf um den Erhalt der Erinnerung, denn erst im Mai 2024 forderte der Berliner Bürgermeister Kai Wegner die Entfernung der den „Trostfrauen“ gewidmeten Friedensstatue in Moabit. Gegen das Vergessen organisierten Horizontaler Gentransfer auch in Stuttgart eine Performance.
Nur eine Zelle des Gesamtkunstwerks
Die Ausstellung im Kunstraum Bethanien ist nur ein kleiner Einblick in den Kosmos und die Themen von Horizontaler Geltransfer. Die Band und Mizi Lee schaffen mit ihrer Musik und Kunst ein multidisziplinäres Gesamtkunstwerk. Bedruckte Bandshirts, K-Pop-Sammelkarten und gehäkelte Kostüme hängen an der Wand. Daneben eine Videoinstallation des sich ständig drehenden Bandlogos.
Die andere Wand wird von einem übergroßen Bild des DIY-Proberaums der Band geziert. Auf einem Röhrenfernseher laufen Textfetzen und auf einem Wühltisch stapeln sich Papierausschnitte von K-Pop-Bands und HGT-Sticker. Eine Rebellion gegen rigide Vorstellungen von Kunst. „Ich will grundsätzlich, dass den Leuten ein bisschen schwindelig wird“, lacht Mizi Lee. K-Punk eben.
Die Ausstellung „I only work with lost and found – Goldrausch 2024“ ist noch bis zum 3. November im Kunstraum Bethanien zu sehen.
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