Kritisieren ohne Nervenzusammenbruch: Hey Maus, lass mal ehrlich sein

Wie wäre es, wenn wir unsere Absichten transparenter machen? Der Schlagabtausch auf Twitter war eh nie ein Ort für Dialoge.

Eine Person fotografiert zahlreiche Metallkugeln und spiegelt sich darin

Wie in der analogen Welt bewegt man sich eben auch auf Social Media in Blasen Foto: Imaginechina-Tuchon/imago

Das Jahr 2021 kann nur besser werden. Mit diesen Vorsätzen zumindest ein kleines bisschen: Die Tage der gegenderten Anrede sind gezählt. Ab dem 1. 1. schrei­ben wir nicht mehr „Sehr geehrte Damen und Herren“, sondern „Liebe Businessmäuse“, für den lockereren Singular reicht „Hey Maus“, wenn es schnell gehen muss „Schatz, ganz kurz …“. Statt jemand oder jemensch jemaus, statt niemand oder nie­mensch niemaus. Hätte mir jemaus gesagt, dass nach diesem Albtraumjahr so eine süße Wendung auf mich wartet, ich hätte es kaum glauben können.

Auf das Phänomen der Hate-Clout möchte ich weiterhin verzichten. Besonders auf Twitter passiert es häufig, dass Leute mit menschenfeindlichen Aussagen oder einfach hängen gebliebenen Argumenten in linken Bubbles eine hohe Reichweite bekommen, weil alle sich über sie aufregen. Aber, ganz ehrlich, was interessiert uns schon, was eine konservative Kolumnistin über Queerfeminismus denkt? Nichts, was sie zu sagen hat, haben wir nicht schon 2013 gelesen. Es ist wie bei Myspace: Haters make them famous.

Glückwunsch, wir haben solchen Leuten die nötige Clout verschafft, wegen der sie heute Book-Deals abschließen. Aber selbst wenn sie damit kein Geld verdienen würden: Haben wir wirklich Bock, wie eine kaputte Kassette dieselben Diskussionen wie damals zu führen? Uns an Leuten abzuarbeiten, die noch nie in ihrem Leben was Kluges gesagt haben? Also ich nicht. Bevor es nun heißt, maus würde sich in einer Echokammer einschließen, wenn maus diesem Rat folgt: Tut maus nicht.

Der Schlagabtausch auf Twitter ist noch nie der Ort für Dialoge gewesen, und zweitens gibt es einen Grund, warum es auf Social Media Bubbles gibt. Als ob maus offline ständig mit allen möglichen Leuten ins Gespräch käme. Apro­pos Kritik: Die darf niemals aufhören. Merkwürdige Debatten 2020 haben dazu geführt, dass für die einen jegliche Kritik ein feindseliger Versuch ist, die Existenz der Kritisierten zu zerstören, und für die anderen Kritik eine Abgrenzungsperformance ohne Konsequenzen ist. Finde ich beides nervig. Lasst uns doch einfach normal einander weiterkritisieren.

Es bliebe viel Kopfschmerz erspart

Dafür braucht es Ehrlichkeit. Wie wäre es, wenn wir unsere Absichten transparenter machten? Mein Cousin aus Teheran schrieb mir im Frühjahr ohne künstlichen Small Talk oder Gruß: „So, wie du gemerkt hast, meld ich mich immer nur bei dir, wenn ich was brauche. Ich brauche was.“ Die von ihm gewünschte Plüschblume bestellte ich ihm gerne. Wenn alle so direkt kommunizieren würden wie er, bliebe viel Kopfschmerz erspart. Leute könnten im Internet ruhig öfter zugeben, dass sie dieses oder jenes ausschließlich wegen der Clout machen.

Scheinkritiken könnten direkter formuliert werden, zum Beispiel: „Die Wahrheit ist, mir passt diese Person nicht und ich werde alles hassen, was sie jemals tun wird, weil ich ein misogynes und missgünstiges Arschloch bin.“ Oder auch: „Corona hin oder her, kein Bock, dich zu treffen.“

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Hengameh Yaghoobifarah studierte Medienkulturwissenschaft und Skandinavistik an der Uni Freiburg und in Linköping. Heute arbeitet Yaghoobifarah als Autor_in, Redakteur_in und Referent_in zu Queerness, Feminismus, Antirassismus, Popkultur und Medienästhetik.

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