Kritische Psychologin: Eine Querdenkerin, schonungslos
Die Psychologin Eva Jaeggi lernte ihr kritisches Denken in einer Diktatur. Heute ist sie 85 und denkt immer weiter über Grenzen hinweg
Als ihr Vater ins KZ kommt, ist Eva Jaeggi ein Kind. Von der Mutter wird sie in ihrer Wohnung in Wien aus dem Schlaf gerissen und in eine Decke gehüllt. Die Familie läuft über die Straße, sucht in dem Haus eines jüdischen Bekannten, der rechtzeitig fliehen konnte, Unterschlupf. Während sie auf der Couch liegt, reißen SS-Männer zu Hause die Schränke auf, zerstören Papiere, zerkratzen Möbel, brechen Schlösser heraus. Ein Kollege des Vaters hatte gehört, dass die Männer kommen würden, um ihn kalt zu machen. Der Vater, höherer Beamter und Nazi-Gegner, stellt sich selbst. Und kommt als politischer Gefangener nach Dachau. „Insofern hat die Nazi-Zeit für mich mit einem Paukenschlag begonnen“, sagt Eva Jaeggi.
Die Zeit in der sie aufwuchs, sei „anregend“ gewesen, weil sie ihren Kopf schulte, ihren analytischen Blick, mit dem sie noch heute, mit 85 Jahren, auf die Welt schaut. Damals musste sie lernen zwischen Böse und Gut zu unterscheiden. „Meine ganze Kindheit hindurch war klar: Es gibt die Nazis und da muss man vorsichtig sein.“ In der Familie werden Auslandssender gehört, BBC auf Englisch. Die Eltern teilen mit ihr, dem Kind, ihre Gedanken, die kritischen. Jaeggi hält dicht. „Es war immer die Drohung, dann muss der Vati wieder nach Dachau, wenn du irgendwas sagst.“
Sie muss lernen, zwischen den Zeilen zu lesen: Botschaften, die noch unter dem Gesprochenen liegen. „Wir haben immer geschaut, dass wir möglichst blöde ‚Heil Hitler‘ grüßen“, sagt Jaeggi. Sie geht mit ihrer Hand zum Kopf und lässt sie wieder nach unten schnellen, als würde sie bloß durch die Luft fuchteln. „Kindische Spielereien“. Dass sie so aufmerksam sein musste, so wach, habe sie vielleicht zu den Geisteswissenschaften gebracht, meint sie.
Jaeggi sitzt in ihrem Wintergarten in Berlin-Zehlendorf. Vom Schreibtisch aus kann sie in den Garten schauen, wo im Frühjahr die Magnolien blühen. Hier sitzt sie gerne und schreibt. Sie schreibt viel, weil sie, da neugierig, viel wahrnehme. Langeweile, mag sie nicht; wenn „einem gar nichts einfällt“ sei das traurig. Ihre populärpsychologischen Bücher haben Eva Jaeggi bekannt gemacht. Sie sind psychologisch und sozialphilosophisch. Gesellschaftskritisch. Gegen den Strich.
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Das Haus der Großeltern
Nach dem Einfall der Nazis in ihr Kindsein zieht sie mit der Mutter zu den Großeltern aufs Land. Die Mutter war irgendwie froh, als der Krieg ausbrach, weil sie sicher war, dass Hitler ihn nicht gewinnt. Manchmal schwänzt Jaeggi die Hitler-Jugend, bis ihr gedroht wird, sie würde nicht aufs Gymnasium kommen.
In das Haus der Großeltern, das jetzt ihre Ferienwohnung ist, fährt sie manchmal mit der Tochter, dem Schwiegersohn und Enkelkind. Jaeggis Tochter, Rahel Jaeggi, ist Professorin für Philosophie. Manchmal lädt sie in das Haus in Österreich Intellektuelle ein. Eva Jaeggi lauscht dann den Diskussionen. „Da sitzt man abends im Garten und trinkt seinen Crémant.“
Aber von vorn. Jaeggi studiert Psychologie in Wien. Ihre Studienzeit, die Zeit nach dem Krieg, sei eine unpolitische. Die Kritische Theorie, die sie später interessiert, gibt es da nicht. Und Psychoanalyse war „fast eine staatsfeindliche Wissenschaft“. Die Universität wird von der katholischen Kirche bestimmt.
Den Vater ihrer Tochter, Urs Jaeggi, lernt sie an einem sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut in Dortmund kennen, an dem sie nach der Promotion arbeitet. Sie will herausfinden, wie die Leute im Ruhrgebiet leben und arbeiten. „Was für so ein bürgerliches Mädchen aus Wien mit konservativem Hintergrund hochinteressant war. Eine ganz andere Welt.“ Die Hochöfen, die abends angestochen werden, färben den Himmel rot und am Institut gibt es Gewerkschafter. Aber auch Nazis. Urs Jaeggi und sie überlegen: „Wer sind die einen, wer sind die anderen?“ Eva Jaeggi sagt: „Er war politisch viel wacher, von der linken Seite her.“
Die Frau, ein Nebenwiderspruch?
Urs Jaeggi, Soziologe, Pionier der Studentenbewegung und später Romanautor, bekommt, nachdem sie geheiratet haben, einen Ruf nach Bochum. Als Professor lädt er Studenten nach Hause ein. Ihre Tochter Rahel ist auf der Welt. Während die Männer spät noch am Tisch sitzen und diskutieren, liegt Eva Jaeggi in einer Ecke und schläft. Es war klar: Sie steht morgens auf, um sich um die Tochter zu kümmern. Antiautoritäre Erziehung liegt zwar im Trend und alle rühmen sich Feministen, aber das Sagen haben die Männer. „Da sind Theorie und Praxis auseinandergeklafft.“
Als Eva Jaeggi in den Siebzigern nach Berlin geht und am Holzkamp-Institut lehrt, sind die Studentenproteste dort heftiger. Sie trifft auf radikal linke Gruppen. Sie erinnert sich an ihre erste Vorlesung. Eine Studentin sagt nach der ersten Viertelstunde: „Genossin, ich möchte abstimmen lassen, ob wir uns diesen bürgerlichen Scheiß anhören wollen.“ Es geht um Verhaltenstherapie. „Etwas ganz Unpolitisches, wenn man so will.“
Eva Jaeggi fängt an, sich für kritische Psychologie zu interessieren, für die gesellschaftlichen Bedingungen, die die Gedanken formen. Diagnosen seien kulturell geprägt. Burn-out etwa. Es lohne sich, die Gesellschaft zu analysieren, sich verändernde Arbeitsbedingungen anzuschauen. Auch die Annahme, dass Therapeuten die Gründe für spätere Entwicklungen in der Kindheit suchen, sage viel über die jeweilige Kultur. In ihrem Buch „Und wer therapiert die Therapeuten?“ nimmt sie ihr eigenes Metier auseinander, schonungslos. Jaeggi ist ein freundlicher, fröhlicher Mensch. Aber sie kann kühn werden, manchmal erschreckt man sich. Eine kritische Beobachterin mit klarer Stimme.
Identität verändert sich
Heute beschäftige sie vor allem das Alter. Jaeggi gibt mit 85 noch Therapien. Aber nur für Patienten über 60, die sie besser verstehen kann. Auch weil Identitätsfindung früher anders funktionierte als heute. „Sie können nicht so sehr Identitäten aus Rollen borgen, weil die Rollen auch unklar sind.“ In ihrem letzten Buch „Wer bin ich? Frag doch die anderen! Wie Identität entsteht und wie sie sich verändert“ schreibt Jaeggi darüber. In Therapien hätten Psychologen immer mit sich selbst zu tun. Diese fehlende Distanz sieht sie als einen Grund, warum unter ihnen die Suizidrate so hoch ist. „Man muss sich ja immer wieder identifizieren, um den anderen zu verstehen.“ Um das Spiel zwischen Nähe und Distanz zu meistern, müssten Therapeuten Schauspieler werden.
Urs Jaeggi, ihr ehemaliger Mann, lebt heute in Mexiko-City, hat die Wissenschaft aufgegeben und widmet sich der Kunst. Bis in die Achtziger sind Eva Jaeggi und er zusammen. „Das war eine Zeit, in der ich viel gearbeitet habe, da war das Privatleben klein und das Berufsleben groß.“ 1978 habilitiert Eva Jaeggi, macht Karriere, gründet Anfang der Neunziger die Neue Gesellschaft für Psychologie mit, die eine Verschränkung mit anderen Geisteswissenschaften anstrebt.
Dass sie ständig auf Urs Jaeggi angesprochen werde, sei anstrengend. Lieber wird sie nach der Tochter gefragt. „Ich finde die Bücher meiner Tochter ganz, ganz interessant“, sagt sie. Wenn Rahel Jaeggi sie beim Schreiben um Rat fragt, freut sie sich: „Höher kann ich nicht steigen.“
Sie schaut zwischen Denken und Reden ins Grün. Und lässt die Zeit „einfach ziehen“. Nur der Tod ist für sie ein störender Gedanke. „Ich finde ihn eigentlich unmöglich.“
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