Kritik an Migrantenverbänden: Jonny? Egal, war keiner von uns
Der Mord an Jonny K., mutmaßlich von Migranten verübt, sorgt für Entsetzen. Nun kritisieren Deutschtürken Migrantenverbände für ihre Zurückhaltung.
BERLIN taz | Nach dem Tod von Jonny K. am Alexanderplatz melden sich nun Berliner Deutschtürken zu Wort. „Den Ursachen der Gewalt in unserer Stadt wird nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt, und Jonny ist das neueste Opfer dieser sinnlosen und anhaltenden Brutalität“, heißt in der Erklärung, die der taz vorliegt.
Der 20-jährige Thai-Deutsche Jonny war in der Nacht zum 14. Oktober von einer Gruppe Jugendlicher so brutal zusammengeschlagen worden, dass er wenig später an einer Hirnverletzung starb. Sechs Verdächtige konnte die Polizei seither identifizieren, drei davon sind flüchtig und werden in der Türkei bzw. in Griechenland vermutet.
An Gewalttaten wie dieser trügen „die Ignoranz der Mehrheitsgesellschaft, das Justizsystem, die Familien, die Politiker, die im Namen von Migranten agieren, sowie Verantwortliche in der Bildungs- und Jugendpolitik eine Mitschuld“, heißt es in der Erklärung weiter.
Das Besondere an ihr: Die 16 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner sind Erzieher und Fußballtrainer, Pflegerinnen und Juristinnen, Gastronomen und Bauunternehmer. Man könnte sagen: ein Querschnitt der deutschtürkischen Zivilgesellschaft.
16 Unterzeichner
Abwesend sind nur jene, die sonst für sich beanspruchen, die Interessenten der Deutschtürken zu vertreten und in deren Namen zu sprechen. „An den Migrantenpolitikern, Lobbyvertretern und den acht Türken, die immer reden, haben wir Kritik“, sagt einer der Unterzeichner, der Sozialarbeiter Ercan Yasaroglu.
Mit der Erklärung hätten sie gewartet, weil sie den Eindruck vermeiden wollten, dass sie Jonnys Tod instrumentalisieren würden. „Und wir haben gewartet, ob die Migrantenpolitiker und Verbandsvertreter von sich aus ihre Betroffenheit zeigen – aber da kam null Reaktion“, sagt Yasaroglu.
Von seiner Kritik nimmt Yasaroglu allein Remzi Kaplan aus, Vorsitzenden der Türkisch-Deutschen Unternehmervereinigung. Die Verbandsvertreter seien nicht seine Feinde. Er fordere aber ein „Umdenken“.
Unterstützer können sich bei der Facebook-Seite melden
Aus Gesprächen mit deutschtürkischen Bekannten, auch solchen, die sich als „linke Humanisten“ sehen würden, habe er den Eindruck, dass folgende Ansicht weit verbreitet sei: „Jonny war keiner von uns, also interessiert uns das nicht.“ Selbst im Zusammenhang mit den NSU-Morden würden viele nur von den acht türkischen Opfern reden.
Für Yasaroglu ist das der Ausdruck eines allgemeinen Phänomens: „In unserer Gesellschaft werden immer die Unterschiede und Defizite kommuniziert. Schuld haben immer die anderen.“ Im Hinblick auf Jonny ergänzt er: „An diesen Gewaltexzessen haben alle Schuld. Aber die größte Schuld haben die Eltern. Wenn sie ihren Kindern nicht vermitteln können, was richtig und was falsch ist, hilft alles andere nicht.“
Debatte nur bei Türken
„Rassismus und Gewalt haben keine Ethnie“, fügt die Autorin Gülcin Wilhelm hinzu, neben der Publizistin Arzu Toker die einzige bekannte Unterzeichnerin. Das Schweigen der deutsch-türkischen Politiker – wovon sie Cem Özdemir ausnimmt – hält sie für „Überschwappen des türkische Nationalismus“.
Das Schweigen der Lobbyvertreter sei kein Einzelfall; auch im Fall Giuseppe Marcone hätten sich diese zurückgehalten. Der 23-jährige Deutschitaliener war im September 2011 am Kaiserdamm in Berlin auf der Flucht vor Angreifern von einem Auto erfasst worden. Im März verurteilte das Berliner Landgericht zwei Angreifer zu Bewährungsstrafen. „Es war eine Flucht Hals über Kopf", meinten damals die Richter. „Wenn er etwas langsamer gelaufen wäre, wäre es nicht passiert.“
Kenan Kolat, der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde Deutschlands, fühlt sich von dieser Kritik nicht angesprochen: „Wir haben Kontakt mit der Familie aufgenommen und uns mit der Sache beschäftigt.“ Er habe auch versucht, den flüchtigen Hauptverdächtigen zur Rückkehr nach Deutschland zu bewegen. Aber so was mache man nicht für die Öffentlichkeit. Jugendgewalt hält Kolat für ein ernstes Problem. „Aber diese Debatte wird nicht geführt, wenn deutsche Jugendliche einen Deutschen verprügeln.“
Die Unterzeichner der Erklärung, die Wert darauf legen, dass sie keine Organisation sind auch keine werden wollen, sind unter Facebook-Seite „Wir trauern um Jonny“ zu erreichen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen