Kritik an Kinderporno-Regelung: "Jugendliche sind keine Kinder"
Deutsche Sexualwissenschaftler kritisieren die geplante Kinderporno-Richtlinie der EU. Anstatt missbrauchten Kindern zu helfen, würde sie Probleme sogar verschlimmern.
Eine Horrorvision staatlicher Willkür: „Die Blechtrommel“, der erste mit einem Oscar bedachte deutsche Spielfilm, wird verboten, schon der Besitz steht unter Strafe. Teenie-Komödien wie "American Pie" oder „Eis am Stil“ verschwinden aus den Kinos und Videotheken. Selbst der neueste Harry-Potter-Film wird wegen simulierten Sex zwischen Minderjährigen zum Fall für den Staatsanwalt.
Mit diesem Szenario versuchen sechs sexualwissenschaftliche Gesellschaften Einfluss auf neue EU-Regelungen zu nehmen. Die „Richtlinie zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie“ wird derzeit im Europäischen Parlament verhandelt.
Für viel Aufsehen sorgte das Ansinnen der EU- Kommissarin Cecilia Malmström, Netzsperren gegen kinderpornografische Seiten verpflichtend zu machen. Dieser Plan scheint mittlerweile vom Tisch – die EU-Staaten sollen selbst entscheiden, ob sie die Sperren realisieren oder nicht.
Bis 18 Jahre Kind
Die Sexualwissenschaftler reiben sich an einem anderen Punkt. Die Kernfrage ist: Wer ist ein Kind? „Jugendliche und junge Erwachsene sind keine Kinder“, heißt deshalb eine gemeinsame Erklärung, die von insgesamt sechs Berufsorganisationen verabschiedet wurde, darunter die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung und die Gesellschaft für Sexualwissenschaft.
Das Schutzalter bestimmt nicht nur, wer auf welche staatliche Hilfe Anrechte hat, sondern definiert auch das erlaubte Maß an Eigenständigkeit. So können Minderjährige in vielen Staaten zwar legal Geschlechtsverkehr haben, jedoch keine Nacktbilder von sich anfertigen oder weitergeben. Gesetze, die Minderjährige gegen Missbrauch schützen sollten, richten sich plötzlich gegen sie selbst. So wurden in den USA bereits mehrere Teenager verurteilt, weil sie Bilder von sich selbst verbreitet hatten.
In Europa sollen nach Verabschiedung der Richtlinie in allen Ländern Strafgesetze angeglichen werden. Insbesondere die „Verwendung von Informations- und Kommunikationstechnologie“ soll in die Gesetze aufgenommen werden. Ziel sind unter anderem Erwachsene, die Kinder über Internet-Chats zu sexuellen Handlungen auffordern. Die Sexualforscher zweifeln am Erfolg der Maßnahmen. „Statt alle Kräfte auf die Bekämpfung wirklicher Kinderpornografie zu konzentrieren, greift die überbordende Kriminalisierung tief in die Lebensrealität und Selbstbestimmung junger, sogar erwachsener Menschen ein“, heißt es in der Erklärung.
So habe die EU-Kommission im Bemühen um eine Angleichung der Strafrechtsbestände in ganz Europa wichtige Ausnahmeregeln über Bord geworfen. Auch das Schutzalter wurde auf den größten gemeinsamen Nenner festgesetzt, nämlich 18 Jahre. Befürworter der Richtlinie erklären, nur mit einem formal hohen Schutzalter sei eine Einigung auf europäischer Ebene überhaupt möglich gewesen.
Im Bemühen, keine Schlupflöcher für Kinderpornografie offen zu lassen, will die EU-Kommission die Definition des Begriffs ausweiten. Dabei spielt es formal keine Rolle, ob es bei dem Material um einen echten Kindesmissbrauch geht oder um gebräuchliche Pornografie mit erwachsenen Darstellern – kriminalisiert wird alles, das auch nur den Anschein erwecken könnte, dass Jugendliche und Kinder Sex haben. Wie die Umsetzung konkret aussehen könnte, ist aber offen.
In Deutschland ist Jugendpornografie schon seit 2008 Straftatbestand. Die Vorschrift wird von deutschen Ermittlern aber bisher nur sehr selten eingesetzt. Obwohl auch „Jugendanscheinspornografie“ illegal ist, kann Harry Potter unbehelligt in deutschen Kinos laufen, auch die Tausende von Porno-Seiten, die mit jugendlich wirkenden Darstellern Kasse machen, werden noch nicht verfolgt.
Polizeistatistik und Realität
Das Urteil der Sexualwissenschaftler ist harsch: Obwohl in der Richtlinie einige richtige und wichtige Maßnahmen vorgesehen seien, konzentriere sich die Kommission auf „Symbolpolitik und Populismus“. Grund dafür sei auch eine unzureichende Problemdiagnose. Zwar wiesen die Polizeistatistiken steigende Missbrauchszahlen auf – das spiegele aber nicht unbedingt die Realität wieder. „Ignoriert wird die kriminologische Erkenntnis, dass die bisher gemessene Zunahme ausschließlich auf der gesteigerten gesellschaftlichen Beachtung des Problems und entsprechender Anzeigebereitschaft beruht“, heißt es in der Erklärung.
Mit der falschen Kerndiagnose scheitere die Kommission auch daran, geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen, die den Opfern sexuellen Missbrauchs tatsächlich helfen: „Falsch ist vor allem die Grundannahme, schlichte Strafschärfungen würden stärker abschrecken“, schreiben die Wissenschaftler. In der Tat ist die Begründung der Richtlinie denkbar vage: „Obwohl zu diesen Straftaten keine präzisen und zuverlässigen Statistiken vorliegen, hat es einschlägigen Studien zufolge den Anschein, dass eine nicht unerhebliche Minderheit von Kindern in Europa während ihrer Kindheit sexuellen Übergriffen ausgesetzt ist“. Forschungsarbeiten ließen darauf schließen, dass bestimmte Formen sexueller Gewalt „eher zunehmen“ würden.
Die Sexualwissenschaftler appellieren nun an das Euopaparlament, gegen die in ihren Augen überbordenden Regelungen der Richtlinie Einwände zu erheben und so den Kampf gegen Kindesmissbrauch effektiver zu gestalten. „In allen Mitgliedstaaten kommt es dabei entscheidend auf den Gesetzesvollzug durch Jugendschutz- und Sozialbehörden, Polizei und Justiz an.“ Diese seien im Zweifel nicht von der EU steuerbar.
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