Kritik an Berichterstattung: Jens Söring, ein Fall fürs TV
Ein verurteilter Mörder wird von deutschen Medien hofiert. Ob seine Geschichte stimmt, beleuchten zwei neue Dokus auf ARD und Netflix.
E s gibt zwei unendliche Geschichten: die von Michael Ende und die von Jens Söring. Söring steht seit 30 Jahren im Rampenlicht, aber aktuell ist ihm wieder mediale Aufmerksamkeit sicher: in zwei neuen True-Crime-Dokus auf ARD („Mord. Macht. Medien – Der Fall Jens Söring“) und Netflix („Der Fall Jens Söring – Tödliche Leidenschaft“).
Bekannt wurde der deutsche Diplomatensohn 1990, als man ihn wegen Mordes an den Eltern seiner Freundin Elisabeth Haysom zu zwei lebenslangen Haftstrafen verurteilte. Söring hatte die Morde zunächst gestanden, beharrte während des Prozesses aber auf seiner Unschuld. Er habe mit dem Geständnis bloß versucht, seine Freundin vor dem elektrischen Stuhl zu retten. Verurteilt wurde er trotzdem, Haysom erhielt wegen Anstiftung zum Mord 90 Jahre, 2019 kamen beide frühzeitig frei.
Haysoms Geschichte ist an dem Punkt auserzählt, die von Söring fängt da erst richtig an. Denn er machte seine Story zum Business, und die entpuppte sich als Selbstläufer mit gewaltigem Output: acht Autobiografien, drei Dokus, zwei Podcasts, zwei Serien und Dutzende Zeitungsartikel, Interviews und Auftritte in deutschen Talkshows.
Der Großteil davon übernimmt Sörings Version, in der er Opfer und Held ist. In dieser Doppelrolle präsentierte er sich seit seiner Freilassung 2019 in vielen Talkrunden von „Lanz“ bis „Kölner Treff“, in denen die Moderator:innen versuchten, aus der Bedeutungstiefe seiner tragischen Persona Lebensweisheiten zu schöpfen (zum Beispiel welche Allianzen schmieden, um die Welt zu retten?).
Weitere Tipps verkauft Söring als Lebenscoach in Sachen Resilienz und toxische Beziehung. Sein „Unique Selling Point“: Wer jahrzehntelang im Gefängnis saß, weil er sich von seiner Freundin zu einem Mordgeständnis überreden ließ, muss es ja wissen. Diese unkritisch aufgenommene mediale Ausschlachtung seiner Geschichte hat ihm auch viel Kritik eingebracht, etwa von Übermedien.
Den Wahrheitsgehalt der Erzählung zweifeln nun auch die neuen Dokus an. Die ARD berichtet von der „bemerkenswerten Medienkarriere des verurteilten Doppelmörders“, Netflix spekuliert auf „tödliche Leidenschaft“.
Schuldig oder nicht schuldig – es finden sich bestimmt noch genügend Plottwists für weitere True-Crime-Formate. Im nächsten Podcast erfahren wir vielleicht von Söring, wie die Unterhaltungsindustrie seine Geschichte verdrehte. Aber immerhin, und das ließe sich auch jetzt schon sagen, wird genügend darüber erzählt worden sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball
Bodycams bei Polizei und Feuerwehr
Ungeliebte Spielzeuge
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus