Kritik am Gesundheitsfonds: Bürokratisch ruiniert
Wer an Hämophilie leidet, ist ein teurer Patient. 200.000 Euro können die Medikamente kosten. Eine Krankenkasse versucht, die Kosten zu reduzieren - und wird bestraft.
Zwei Brüder. Bernhard* wird 1993 geboren, Lukas* 1994. Zwei Brüder, manche halten sie für Zwillinge, auch weil sie sich äußerlich so ähnlich sind: Sobald sie sich irgendwo leicht stoßen, sind die blauen Flecke immens. Schlagen sie sich draußen beim Spielen die Knie auf, dann hört die Wunde nicht mehr auf zu bluten. Dann, 1996, die Diagnose: die Brüder Bernhard und Lukas aus der bayerischen Kleinstadt D.* sind Bluter.
Hämophilie ist die korrekte Bezeichnung für die Krankheit, wenn im Blut das Eiweiß fehlt, das für die Gerinnung sorgt. Beide Brüder: chronisch und unheilbar krank, von nun an lebenslänglich auf Medikamente angewiesen, die pro Kind im Jahresmittel rund 230.000 Euro kosten, so viel wie etwa zwei Lebertransplantationen. Nur gut, dass die Krankenkasse, die BKK Krones, zahlt.
Der Alltag mit der Krankheit ist schon schwierig genug: Sportunfälle, leichte Verletzungen sind ab sofort lebensgefährlich. Und können nicht beim Hausarzt um die Ecke behandelt werden, sondern in der Universitätsklinik Erlangen, 100 Kilometer entfernt.
Mittlerweile, Bernhard und Lukas sind heute 18 und 17 Jahre alt, haben sie gelernt, mit der Krankheit umzugehen. Nur noch alle acht Monate müssen die beiden zur Kontrolle in die Universitätsklinik Erlangen, wo ihre Werte überprüft und die Blutgerinnungsmedikamente verordnet werden, die sie sich sodann selbst alle drei Tage zu Hause spritzen.
Weniger Arbeit für Ärzte, weniger Ausgaben für die Kassen
Gelagert werden die über Monate haltbaren Chargen in einem Kühlschrank daheim im Keller. Eine Erleichterung. Für die betroffenen Patienten: weniger Stress. Für die behandelnden Ärzte: weniger Arbeit. Und für die versichernde Krankenkasse: weniger Ausgaben durch kostenbewusstes Verhalten.
Dachte jedenfalls die BKK Krones, eine Betriebskrankenkasse mit Sitz in Neutraubling bei Regensburg, die ausschließlich Beschäftigte des Maschinenbauunternehmens Krones AG sowie deren Angehörige versichert. Mit 11.000 Versicherten zählt sie zu den Zwergen unter den deutschen Krankenkassen - und schreibt dank soliden Wirtschaftens seit Jahren schwarze Zahlen.
Jetzt aber wird sie dafür bestraft: Weil der achtmonatige Untersuchungsrhythmus von Bernhard und Lukas dazu führt, dass die beiden Hämophilie-Erkrankten in manchen Jahren nur einmal beim Arzt sind, verzeichnet die Kasse in ebendiesen Jahren neuerdings Zuweisungsverluste aus dem Gesundheitsfonds von mehr als 400.000 Euro. Der Grund: Den Hämophilie-Höchstsatz von 212.000 Euro pro Jahr und Patient erhält eine Krankenkasse nach einem neu eingeführten Klassifikationsmodell ab sofort nur noch dann, wenn sie nachweisen kann, dass der Versicherte die teuren Arzneimittel in mindestens zwei unterschiedlichen Quartalen eines Kalenderjahrs verordnet bekam.
Ansonsten werden der Kasse pauschal 16.200 Euro pro Hämophilie-Versichertem und Jahr zugewiesen. Und zwar egal, ob der Versicherte beispielsweise gar keine Arzneimittel in Anspruch genommen hat (auch solche Bluter gibt es) oder, wie die Brüder Bernhard und Lukas, alle Verordnungen des Jahres in einem Quartal erhielt.
Der Arztbesuch ist notwendig, egal ob es sinnvoll ist oder nicht
Wie die Kasse sodann die restlichen Behandlungskosten für die chronisch schweren Fälle refinanziert - wie gesagt: Es geht um 230.000 Euro pro Patient -, bleibt ihrer Kreativität überlassen. Auf eine Prüfung der verordneten Tagesdosen, die über die tatsächlichen Kosten wirklich Aufschluss geben würde - verzichtet das neue Klassifikationsmodell.
"Das ist eine der medizinischen Situation überhaupt nicht entsprechende Schubladensetzung", urteilt Robert Zimmermann, Professor für Transfusionsmedizin an der Universitätsklinik Erlangen. "Was hier verlangt wird, ist eine Vorstellung beim Arzt, damit administrativen Gegebenheiten Genüge getan wird."
Administrative Gegebenheiten, die wurzeln in diversen Gesundheitsreformen diverser Regierungen und muten ebenso willkürlich und monströs an wie die Begrifflichkeiten, die ebendiese Reformen hervorgebracht haben: Gesundheitsfonds. Morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich. Hierarchisierte Morbiditätsgruppe HMG 035.
Um Letztere geht es in dem Bluterstreit, der mittlerweile beschäftigt: den BKK Landesverband Bayern als Interessenvertreter der BKK Krones; das Bundesversicherungsamt in Bonn als Aufsichtsbehörde der gesetzlichen Krankenkassen; sowie das Bundesgesundheitsministerium. HMG 035, hinter dieser Abkürzung verstecken sich die 212.000 Euro Zuweisungen pro Bluter aus dem Gesundheitsfonds, die die BKK Krones einfordert.
"Es ist schizophren, dass wir anhand der Rezepte zwar nachweisen können, dass die beiden bei uns Versicherten zu den kostenintensiven chronisch Kranken gehören, bei der Höhe der Zuweisung aber nur die Anzahl der Arztbesuche ausschlaggebend sein soll", sagt der Vorstandschef der BKK Krones, Wolfgang Weiß.
Alles läuft über den Gesundheitsfonds
Allein: Weiß ist ohnmächtig. Seit Jahren erwirtschaftet seine Kasse Überschüsse, 2007 916.000 Euro, 2008 421.000 Euro, 2009 812.000 Euro. Das Gesamtvermögen der Kasse beläuft sich auf 5,4 Millionen Euro, bis heute kann die Kasse auf Zusatzbeiträge verzichten. Doch über die Verwendung ihrer Versichertengelder darf die Kasse nicht frei entscheiden, auch das ist eine Folge deutscher Gesundheitsreformpolitik: Seit 2009 fließen sämtliche Beitragseinnahmen der gesetzlichen Krankenkassen wie auch Steuergelder zunächst in einen zentralen Gesundheitsfonds, der vom Bundesversicherungsamt verwaltet wird.
Von dort wird das Geld an die Kassen verteilt - nach einem komplizierten Zuweisungsschlüssel, der unter anderem die Schwere, den chronischen Verlauf oder auch die bundesdurchschnittlichen Therapiekosten einer Krankheit berücksichtigen soll. Was einmal für mehr Gerechtigkeit unter den Kassen sorgen sollte, erweist sich zunehmend als untaugliches Instrument. Trotzdem wird unbeirrt daran festgehalten. Warum?
Mit Schreiben vom 19. Januar 2011 wendet sich die Vorständin des BKK-Landesverbands Bayern, Sigrid König, persönlich an den Präsidenten des Bundesversicherungsamts, Maximilian Gaßner: "Im Haushaltsjahr 2010 entsteht der BKK wegen der neuen Systematik […] ein nicht zu rechtfertigender Nachteil. […] Das kostenbewusste Verhalten von Versicherten, Leistungserbringern und Krankenkasse wird durch einen exorbitanten Zuweisungsverlust bestraft." Dieser Verlust von rund 400.000 Euro entspreche "in etwa der kompletten Mindestrücklage der Kasse". Deutlicher lässt sich kaum warnen vor der Gefahr einer Insolvenz.
Die Aufsichtsbehörde gibt sich ungerührt. Am 22. Februar bescheidet der BVA-Präsident Gaßner dem BKK-Landesverband: "Bedauerlicherweise muss ich Ihnen mitteilen, dass sich in der Sache BKK Krones kurzfristig keine Änderungen ergeben werden." Gaßners Begründung führt den politisch stets propagierten Zweck des Gesundheitsfonds - nämlich über individuelle, zielgenaue Betrachtungen für mehr Gerechtigkeit im System zu sorgen, ad absurdum: "Ein solches Klassifikationssystem hat nicht die Aufgabe, jeden Einzelfall genau abzubilden."
BVA vertröstet
Allerdings, beteuert der BVA-Präsident, würden weitere Anpassungen "geprüft", möglicherweise schon 2013 könne das System erneut verändert werden: "In dem von Ihnen beschriebenen Sachverhalt sehe ich von daher keine ,Bestrafung' kostenbewussten Verhaltens, sondern lediglich eine Friktion im Übergang zu einem zielgenaueren System, von dem gerade Fälle, wie die von Ihnen beschriebenen, langfristig profitieren werden."
Profitieren? Was für eine vergiftete Ansage: Die fehlenden 400.000 Euro entsprechen, wie gesagt, der gesetzlichen Mindestrücklage der BKK Krones. Und wie wohl kein anderer weiß der Präsident der Aufsichtsbehörde, dass Krankenkassen, die weniger als die gesetzlich vorgeschriebene Rücklage von einer Viertelmonatsausgabe auf der hohen Kante haben, in ihrer Existenz akut bedroht sind.
Erst vergangene Woche rügte Gaßner, dass jede vierte gesetzliche Krankenkasse unter seiner Aufsicht dieses Kriterium nicht erfülle. Den BKK Landesverband Bayern forderte er auf, ebenfalls mit Schreiben vom 22. Februar, die finanzielle Belastung der BKK Krones doch bitte innerhalb des Systems der Betriebskrankenkassen auszugleichen. Sprich: Die BKKs sollen sich untereinander helfen, statt Missstände des Gesundheitssystems anzuprangern. Was aber, wenn die betroffene Kasse allein aufgrund bürokratischer Willkür, also unverschuldet in diese finanzielle Notlage geraten ist?
Dann, sagt ein Branchenkenner, könne man den Eindruck gewinnen, dass die neuen Klassifikationssysteme dazu missbraucht werden sollen, das politisch gewollte Kassensterben zu exekutieren: 50 bis 60 gesetzliche Krankenkassen, so hatte es die damalige SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt bei der Einführung des Gesundheitsfonds gesagt, seien ausreichend. Derzeit gibt es noch 155 in Deutschland. Den kleineren unter ihnen wird, spätestens seit der Pleite der City BKK, gemeinhin unterstellt, sowieso anachronistisch zu sein und wirtschaftlich mit einem Bein im Abgrund zu stehen. Gegen diese Einschätzung verwahrt sich der BKK Landesverband Bayern.
Am 11. März wendet er sich schriftlich an den zuständigen Ministerialdirektor im Bundesgesundheitsamt: "Es kann nicht Aufgabe eines Ausgleichs des BKK Landesverbands sein, Strickfehler in der Umsetzung des Risikostrukturausgleichs zu heilen. Vor diesem Hintergrund wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir Ihre Sicht der Dinge möglichst bis Anfang April mitteilen."
Auf die Anwort warten der Landesverband und die BKK Krones bis heute.
*Name geändert
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