Krise in Venezuela: Willkommen in der Mangorepublik
Venezuela war einmal ein Versprechen auf ein besseres Leben für alle. Heute hungern die Menschen. Ist die Revolution von Hugo Chávez am Ende?
Esney Gutierrez, zehn Jahre alt, wohnt im Stadtviertel Nuevo Horizonte ganz im Westen von Caracas, der Hauptstadt Venezuelas. Ein dicht bebauter Hügel verdeckt die Sicht aufs Stadtzentrum, in der anderen Richtung glitzert bei klarer Sicht am Horizont das Meer.
Er zeigt alle Zimmer des kleinen Hauses, das an den steilen Hang gebaut ist, er erzählt, dass manchmal Papageien vorbeikommen, er läuft die Betontreppe hoch zum kleinen Garten. Dort steht der Mangobaum. Caracas hat viele davon, gerade sind die Früchte reif. Esney hustet und spuckt auf den Boden.
„Ich fühle mich schwach“, sagt er. „Mir tun die Rippen weh.“ Er schleppt einen Topf mit Mangos die Treppe hinunter. Esney ist ein schmaler Junge, unter der offenen Jacke ist sein leicht aufgequollener Bauch zu sehen.
Früher habe er viel mit seinen Freunden gespielt, erzählt er. Seit einigen Wochen besucht er nur selten die Schule, weil seine Mutter nicht möchte, dass er hungrig dorthin geht. Esney spricht schnell und monoton, und er redet manchmal wie ein Erwachsener. Dann sagt er Sätze wie: „Ich habe vergessen, was es heißt, vergnügt zu sein.“ Er beißt in eine Mango mit Schale, dicker gelber Saft läuft ihm übers Gesicht.
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So sieht sie aus, die Krise in der Bolivarischen Republik Venezuela. Ein Land, in das viele Linke weltweit einmal große Hoffnungen setzten.
Das gute Leben für alle
Esneys Eltern streiten oft darüber, wer Schuld hat an der Misere. Sein Vater klebt hinter dem Haus Schuhsohlen zusammen und trägt eine rote Mütze, auf der in weißer Schrift „Maduro“ steht, der Name des Präsidenten. Seine Mutter schimpft auf die Regierung. „Es geht ja gar nicht um mich“, sagt sie, „aber sie haben Hunger.“ Sie zeigt auf die Kinder und Enkel. Acht sind sie im Haus, bald neun, ihre Tochter ist wieder schwanger.
„Wenn ich Essen nur rieche, bekomme ich Hunger“, sagt Esney. In der Küche der Familie riecht es allenfalls modrig. Der eine Kühlschrank ist leer, im anderen liegen eine halbe Yuccaknolle, eine Kochbanane, ein bisschen Grünzeug. Als seine Mutter vom Einkaufen zurückkommt, hat sie eine Packung Spaghetti in der Hand. Die sind schon wieder teurer geworden.
17 Jahre ist es her, dass Hugo Chávez Frías an die Macht kam. Mit dem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ wollte der Exoffizier ein besseres Land schaffen. Dieses Versprechen fanden auch eine Reihe anderer Länder attraktiv, Bolivien etwa und Ecuador. Es entstand eine Allianz in Lateinamerika, die das gute Leben für alle propagierte.
Im 21. Jahrhundert ist Venezuela angekommen, nur das mit dem Sozialismus hat nicht geklappt. Dabei sah es in den ersten Jahren nicht schlecht aus. Ein Staat, der sich um alle Menschen kümmert, der auch die einbezieht, die zuvor ausgeschlossen waren. Der den Armen eine Stimme gibt, Essen, Bildung, Gesundheit.
Die Revolution: 1992 versuchte Hugo Chávez zusammen mit anderen Offizieren erfolglos, zu putschen. Dann setzte er auf Demokratie und wurde 1998 zum Präsidenten gewählt. Eine neue Verfassung wurde erarbeitet, der Kurs zum „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ mehrfach vom Volk bestätigt. Bevor Chávez am 5. März 2013 starb, kürte er Nicolás Maduro zu seinem Nachfolger. Der war zuvor Außenminister und Vizepräsident.
Die Opposition: Ende 2015 erlangte das Oppositionsbündnis MUD (ein Dutzend Parteien von Mitte-rechts bis Mitte-links) eine große Mehrheit im Parlament und brachte ein Abwahlreferendum auf den Weg, das wohl erst 2017 stattfinden wird. Hat es Erfolg, übernimmt Maduros Vize das Präsidentenamt.
Jetzt gibt es nicht mal mehr genügend Maismehl, um Arepas zuzubereiten, das sind Maisfladen, das Grundnahrungsmittel. In den Schulen und Universitäten fällt der Unterricht oft aus, es gibt zu wenige Dozenten. Die Ärzte in den Krankenhäusern können vielen nicht mehr richtig helfen. Obwohl Venezuela ein reiches Land ist. Es hat die größten Erdölreserven der Welt.
50 Regalmeter Sojasoße
Die erwartete Inflation in diesem Jahr liegt bei mehr als 700 Prozent, das ist weltweit Rekord. 87 Prozent der etwa 30 Millionen Venezolanerinnen und Venezolaner sagen, ihnen fehle das Geld, Essen zu kaufen. Der Mangobaum, scherzen sie, wird zum Baum des Jahres 2017 gekürt, weil er alle in Venezuela ernährt.
Bicentenario heißt die Kette der großen staatlichen Supermärkte, auf Deutsch Zweihundertjahrfeier, 200 Jahre Unabhängigkeit. Die Filiale an der Plaza Venezuela liegt in einem riesigen grauen Betonklotz, man läuft die Einfahrt zur Tiefgarage hinunter, kurz vor dem Eingang beginnt die Schlange. Ein Nationalgardist in grüner Uniform lässt die Leute einzeln durch ein Metalltor hinein.
Auf dem Parkdeck stehen ein paar Autos, den Großteil der Fläche nimmt die Warteschlange ein, sie windet sich um die gelb und blau bemalten Betonsäulen herum, alle paar Minuten ein Schritt vorwärts. Manche haben sich eine Zeitung mitgebracht, eine Frau sitzt auf dem Boden und stillt ihr Baby, ein älterer Mann hat einen Klapphocker dabei.
Ein junger Mann in einem T-Shirt in den venezolanischen Nationalfarben Gelb, Blau, Rot stellt sich in die Reihe und nimmt seine Schirmmütze ab. Félix Díaz heißt er, er ist 26 Jahre alt, und am Donnerstag darf er einkaufen. Das sagt die Nummer seines Ausweises. Später wird er den vorzeigen müssen und seinen Fingerabdruck abgeben. Er hat sich im Copyshop freigenommen, wo sie die Kopierer so hell einstellen, dass man den Text gerade noch lesen kann. Tinte sparen. Was er kaufen will? „Was auch immer es gibt.“
Kein Geld zum Gelddrucken
Félix Díaz weiß, wo er Maismehl, Reis oder Öl bekommen würde. Sogar Fleisch und Milch. Er weiß, wo die Bachequeros stehen, die Schwarzmarkthändler. Aber er kann ihre Preise nicht zahlen. Zehnmal so teuer wie im Bicentenario, zwanzigmal. Zwei Pakete Maismehl für den Lohn einer Woche.
Nicht dass es in den Supermärkten gar nichts gäbe. Sojasoße bekommt man für wenig Geld, Knoblauchsoße auch. Mit den Glasfläschchen werden die Regale aufgefüllt, in manchen Märkten stehen 50 Meter lang nur Glasflaschen mit Soße. Gourmetkäse oder Spargel im Glas gibt es zu Preisen wie in Deutschland. Coca-Cola ist wieder im Angebot, zwischendurch war der Zucker knapp. Was fehlt, sind Grundnahrungsmittel.
Manche wühlen in den Abfalltüten, die im Zentrum abends vor die Geschäfte gestellt werden. Andere fragen in WhatsApp-Gruppen, ob jemand etwas gesehen hat. Wer Geld hat, kann ein Paket aus Miami bestellen. Eine Packung Milchpulver, ein halbes Pfund Kaffee, ein Kilogramm Maismehl, eine Seife, zwei Packungen Spaghetti, zwei Kilogramm Reis, eine Flasche Öl, zwei Packungen schwarze Bohnen, zwei Päckchen Linsen, zwei Dosen Thunfisch, zweimal Waschpulver. „Für nur $ 59,99“. Das ist viermal der monatliche Mindestlohn.
Die Währung: Die venezolanische Regierung entscheidet, wer zum offiziellen Kurs Devisen kaufen darf, etwa um Produkte zu importieren. Es gibt zwei offizielle Kurse. Einen für Essens- und Medikamentenimporte, da sind 10 Bolívar 1 Dollar wert. Und den schwankenden Kurs, derzeit entspricht 1 Dollar gut 600 Bolívar.
Ihr Wert: Der Bolívar ist viel weniger wert, als die offiziellen Kurse festlegen. Auf dem Schwarzmarkt kostet 1 US-Dollar rund 1.000 Bolívar. Der Mindestlohn beträgt 15.051 Bolívar. Plus 18.585 Bolívar in Lebensmittelmarken. Die bekommt aber nicht jeder. Vom Mindestlohn kann kaum jemand leben.
Auch an den Geldautomaten gibt es Schlangen. Der größte Schein hat einen Nennwert von 100 Bolívar, laut Schwarzmarktkurs sind das 10 US-Cent. Der Staat will keine größeren Scheine drucken, er hat auch kein Geld dafür.
In der Warteschlange zum Bicentenario, vorne, in der Nähe des Eingangs, gibt es plötzlich Geschrei, Bewegung. „Hoffentlich plündern sie jetzt nicht“, sagt Félix Díaz.
Improvisation im „Wirtschaftskrieg“
So wie vor drei Wochen in Petare, im Osten von Caracas. Erst räumten sie Lastwagen auf der Straße aus, dann stürmten sie Geschäfte. In einer Metzgerei hat eine Überwachungskamera aufgenommen, wie die Plünderer in den Laden rennen, in die Auslage greifen, die Glasscheiben zertrümmern. Tage später noch zittert der Verkäuferin die Stimme. „Wir haben uns vor Angst versteckt. Und es kann jederzeit wieder passieren.“ Mindestens fünf Menschen sind in den vergangenen Wochen bei Protesten und Plünderungen gestorben.
Die Mordrate in Caracas ist so hoch wie in kaum einer anderen Stadt der Welt. Jetzt gibt es noch mehr Tote, weil manche die Justiz selbst in die Hand nehmen. So wie vor Kurzem in Catia. Hier wohnen nicht die Reichen, aber auch nicht die ganz Armen. Zwei Jungen wollten einem Mädchen ihren Gameboy klauen. Einer konnte abhauen, den anderen hielten Nachbarn fest. Sie übergossen ihn mit Benzin, so hat es eine Anwohnerin beobachtet. Aber dann hatten sie kein Feuerzeug, um ihn anzuzünden. Also schlugen sie ihn. Am nächsten Tag starb er im Krankenhaus.
Nachdem Félix Díaz in der Tiefgarage in zwei Stunden nur etwa 30 Meter weitergekommen ist, gibt er für heute auf. „Den ganzen Tag in der Schlange stehen, das ist doch erniedrigend“, sagt er.
Am Nachmittag laufen die Kundinnen und Kunden des Bicentenario zurück zur U-Bahn-Station. „Seit 7 Uhr war ich in der Schlange“, sagt eine Frau, „und was habe ich bekommen? Zwei Butter und ein bisschen Getreide.“
Bürokratie und Korruption
Die Regierung hat eine Erklärung, warum das so ist. Sie lässt sie in einem Fernsehwerbespot senden: Die Privatunternehmer wollen mehr Geld verdienen, sagt eine Stimme aus dem Off, deshalb hielten sie ihre Produkte zurück, Wirtschaftskrieg.
Dabei ist das einzige Maismehl, das es hin und wieder noch zu kaufen gibt, von einem privaten Hersteller. Vom Missmanagement staatlicher Firmen ist in dem Spot nicht die Rede.
Venezuela muss die meisten Güter importieren. Solange der Ölpreis hoch war, funktionierte das. Aber allein 2015 sanken Venezuelas Öl-Einnahmen um mehr als 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Jetzt fehlen Devisen. Es rächt sich, dass das Land in den letzten Jahrzehnten kaum etwas selbst produziert hat. Gerade für Landwirtschaft wären die Bedingungen hervorragend: gutes Klima, fruchtbare Böden.
Präsident Maduro improvisiert. Um Energie zu sparen, ließ er vor zwei Monaten die Uhr um eine halbe Stunde vorstellen. Auf dem Land schaltete der staatliche Versorger bis vergangene Woche regelmäßig den Strom ab. Wegen des Energiemangels arbeiteten die meisten Beschäftigten im öffentlichen Dienst seit Anfang Mai nur zwei Tage die Woche. Jetzt sollen sie wieder jeden Tag ins Büro, aber nur bis 13 Uhr.
Maduro hat zum zweiten Mal in diesem Jahr den Notstand ausgerufen, das gibt ihm mehr Macht, das Parlament hat nicht mehr viel zu melden. In seinen Reden, die alle nationalen TV-Sender übertragen, klagt er die USA an und sagt, die Rechten wollten ihn ermorden. Sein Landwirtschaftsminister behauptet, es gebe zwar einen Mangel an Lebensmitteln, aber keinen Hunger. Nationalgardisten löschen auch schon mal das Foto einer Warteschlange vom Smartphone.
Im Wirtschaftskrieg, sagt Héctor Navarro, steht der Feind auch in den eigenen Reihen.
Ein Arzt mit Grenzen
Héctor Navarro hat als Treffpunkt das Einkaufszentrum Los Chaguaramos vorgeschlagen, um die Ecke hatte er lange sein Büro, als er noch an der Universität lehrte, Ingenieurswesen.
Haben Sie Kaffee? No hay café. „No hay“, das ist gerade der häufigste Satz in Venezuela, „gibt’s nicht“. Héctor Navarro ist 66 Jahre alt, Halbglatze, verschmitztes Lächeln. Er legt ein kleines rotes Buch vor sich auf den Tisch, die venezolanische Verfassung, die hat er immer dabei.
Navarro war lange ein Vertrauter von Chávez, sie trafen sich zum ersten Mal am 28. Juli 1994, an Chávez’ 40. Geburtstag. Kurz zuvor war er nach seinem gescheiterten Putschversuch aus dem Gefängnis entlassen worden. Chávez holte Navarro in sein Schattenkabinett, und nach dem Wahlsieg 1998 fing er als erster Bildungsminister der neuen Regierung an, zuständig auch für Kultur, Sport, Wissenschaft. Um seine damaligen Bereiche kümmern sich heute fünf oder sechs Ministerien. Das sei der Kern des Problems, sagt Héctor Navarro. „Der Staat hat sich in ein Monster verwandelt.“
Wenn Héctor Navarro über die alten Zeiten spricht, klingt er manchmal so, als glaube er seinen Erinnerungen nicht. Die Zahl der Hochschulstudenten hätten sie von 600.000 auf mehr als zwei Millionen erhöht. „Wir haben im ganzen Land Universitäten eröffnet, es war verrückt.“ Der steigende Ölpreis half dabei. „Leider“, sagt Héctor Navarro, „wuchsen zur selben Zeit, in der sich die Revolution entwickelte, auch die Bürokratie und die Korruption.“
Héctor Navarro bezeichnet sich immer noch als Chavisten. „Ich bin überzeugt“, sagt er, „dass das, was gerade in Venezuela passiert, absolut nichts mit dem Traum von Hugo Chávez zu tun hat.“ Maduro hat in diesem Jahr einen Unternehmer zum Wirtschaftsminister ernannt. „Das kannst du doch nicht machen, wenn du vorgibst, den Sozialismus erreichen zu wollen!“ Dass es nicht genug zu essen gibt, sagt Héctor Navarro, das hätte Chávez nie erlaubt. Auch nicht, dass es in den Krankenhäusern sogar an Seife fehlt.
Arbeit ohne Gehalt
Vor dem Universitätskrankenhaus von Caracas wachsen ein paar Palmen. Es war einmal die Vorzeigeklinik des Landes und eine der besten des Kontinents. Jetzt ist der Fahrstuhl kaputt, aber das ist Richard Rangels geringstes Problem. Er fährt in den sechsten Stock und geht die drei letzten über die Treppe in die Kindermedizin. Es fehlt an sterilen Handschuhen und Verbandszeug, viele Toiletten und Wasserhähne sind kaputt.
Richard Rangel ist Assistenzarzt, 27 Jahre alt – ohne Brille und Arztkittel sähe er deutlich jünger aus –, er steht kurz vor Abschluss seiner Facharztausbildung. Wissen habe er genug, sagt er, was nütze das, wenn es keine Medikamente gibt?
In einem Zimmer liegen eine 19-Jährige und ihr Baby, wenige Wochen alt. Die Mutter sieht schwach aus, zu essen bekommt sie im Krankenhaus nichts. Und das Baby bräuchte Ampicillin oder Cefotaxim, es hat eine Lungenentzündung. „Ich musste auf ein anderes Antibiotikum ausweichen“, sagt Richard Rangel. Die Eltern haben das Mittel selbst organisiert, wie auch sonst fast alles. Das Papier für den Arztbericht bringt er von zu Hause mit. „Ich denke oft, dass ich zaubern können muss, um den Patienten gerecht werden zu können“, sagt er. Mehrfach seien Kinder an vermeidbaren Krankheiten gestorben. Die Regierung hat einen „Aktionsplan“ angekündigt, lässt aber keine ausländische Hilfe ins Land.
Viele Ärztinnen und Ärzte haben Venezuela verlassen. Sie waren mal 30 auf der Station, sagt Richard Rangel, jetzt noch sieben. Wenn er durch das Adressbuch in seinem Smartphone wischt, kann er sagen, wo sie sind: Kolumbien, Spanien, USA.
Richard Rangel würde auch gern gehen. Die viele Arbeit, 80 bis 90 Stunden die Woche für 40 Dollar im Monat inklusive aller Extras, von denen 30 schon für die Miete draufgehen.
Vor einem Jahr wurde er Opfer einer Expressentführung, die so heißt, weil sie gewöhnlich nur ein paar Stunden dauert. Im Krankenhaus wurde er mit der Pistole bedroht: Rette mein Kind, oder alle sterben. Und wie soll man noch feiern, wenn eine einzige Flasche Bier so viel kostet wie vor zwei Jahren drei Kisten?
Hoffnung in die Opposition
Richard Rangel weiß, dass er sein Land im Stich lassen würde, wenn er geht, aber er kann nicht mehr. Geld für ein Flugticket hat er aber auch keines.
Die Grundschule von Nuevo Horizonte ist ein fünfstöckiger Betonbau, der die anderen Häuser weit überragt, der gelbe Putz blättert ab. Vista Hermosa heißt die Schule, schöne Aussicht.
Es ist die Schule, in die eigentlich auch Esney geht, der Zehnjährige, der Bohnen mit Reis so liebt. „Von 19 Kindern in der Klasse kommen vielleicht 10 oder 11“, sagt die Lehrerin Neida Briceño. Die Kinder, die kämen, seien oft hungrig und unkonzentriert. Das staatliche Schulessen wird seit zweieinhalb Jahren nicht mehr geliefert.
Neida Briceño, 41 Jahre alt, ist eine freundliche, zurückhaltende Frau. Mit ihrem Mann, er ist Polizist, und zwei Kindern wohnt sie ein Stück den Hügel hoch. „Wir waren alle zufrieden, als Chávez an die Macht kam“, sagt sie. Sie konnte studieren. Ihre Familie zehrt noch von diesen besseren Zeiten, der Fernseher, der Computer, das Auto. Früher sind sie mit ihrem Wagen am Wochenende an den Strand gefahren, heute nutzen sie ihn nur noch für das Allernötigste. Das Benzin ist zwar noch sehr günstig, aber das Auto darf nicht kaputtgehen. Ersatzteile wären unbezahlbar.
In den Arepa-Teig macht sie nun Reis oder was sonst gerade da ist. Am 31. Mai, daran erinnert sie sich genau, haben sie das letzte Mal Maismehl gekauft.
Die Stimmung dreht sich
Neida Briceño glaubt nicht, dass die neueste Idee der Regierung funktioniert. Die Leute sollen die Grundnahrungsmittel in einer Tüte an die Wohnungstür geliefert bekommen. Keine Schlangen mehr, Essen für alle. Aber wie oft? Wird es reichen? Und bekommen nur die Regierungsanhänger etwas?
Vor Kurzem hat die Regierung wieder ein Ministerium gegründet. Für „urbane Landwirtschaft“, die Menschen sollen auf den Brachen der Stadt Auberginen, Gurken und Tomaten anbauen. So ein Unsinn, sagt Neida Briceño, es gibt keinen Dünger, und wer soll sich um die Pflanzen kümmern, wenn man den ganzen Tag arbeitet und Schlange steht?
Neida Briceño hat seit knapp einem Jahr unbezahlt in der Grundschule gearbeitet. Ihre Vorgängerin ging in Rente, sie fing an und wurde immer vertröstet: Ganz ruhig, wir haben dich auf dem Schirm, nächsten Monat bekommst du dein Gehalt. Sie bekam es nicht, aber sie wollte auch nicht die Schulkinder im Stich lassen.
Ein paar Tage später hat sie wieder einen Termin im Bildungsministerium: Es sei kein Geld für ihre Stelle da, sagen die Beamten, aber sie könne unbezahlt arbeiten. Nun will sie nie wieder einen Fuß in die Schule setzen. Ihr bleibt der Nachmittagsjob an der katholischen Schule. Dort bekommt sie nicht einmal den Mindestlohn. Aber das Unterrichten macht ihr Spaß.
Neida Briceño versteht nicht, warum einige Kolleginnen immer noch die Regierung unterstützen. Oder der Mann aus der Nachbarschaft, der das kommunale Radio betreibt, 97.5 FM, und der die Revolution bis zu seinem Tod verteidigen will.
„Wir müssen diese Regierung loswerden“, sagt Neida Briceño. Sie habe ihre Chance gehabt. „Klar habe ich Hoffnung in die Opposition“, sagt sie. „In wen denn sonst?“
Die Stimmung im Land wendet sich gegen den Präsidenten. Allerdings gehen die Leute nicht in Massen auf die Straße wie vor zwei Jahren. Viele sagen, sie hätten Angst vor der Nationalgarde und Schlägern der Regierung.
In der vergangenen Woche mussten die Unterstützer des Abwahlreferendums ihre Unterschriften bestätigen, die sie ein paar Wochen vorher abgegeben hatten.
Exminister Héctor Navarro hat sich mit Maduro überworfen, aus der Vereinigten Sozialistischen Partei wurde er rausgeschmissen. „Maduro taugt nicht zum Präsidenten“, sagt Héctor Navarro, „er muss weg.“
Der Gedanke macht ihm aber auch Angst. Er glaubt nicht, dass es die Opposition besser kann. Deshalb baut er eine linke Alternative mit auf, die einen eigenen Kandidaten ins Rennen schicken kann. Héctor Navarro will die Revolution retten.
Die Mangosaison ist in wenigen Wochen vorbei.
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