Krise in Nigeria: Im Land des Hungers
Nirgendwo auf der Welt gibt es mehr Unterernährte als in Nigeria. Hilfswerke warnen jetzt: Die große Krise kommt erst noch.

Vieles blieb unklar, unter anderem wer die Täter überhaupt waren. In vielen Berichten werden sie einfach als „Dschihadisten“ bezeichnet, doch es gibt auch komplizierte lokale Landkonflikte in der Region. In jedem Fall mussten Tausende Menschen aus dem niedergebrannten Ort fliehen, darunter manche, die bereits vor Gewalt anderswo geflüchtet waren. Sie suchten Zuflucht in einem Vertriebenenlager – über 1.000 Bauern und ihre Familien, die nun auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sind, statt selbst Nahrung anzubauen.
Kein Land der Welt zählt laut dem neuen UN-Welternährungsbericht mehr Unterernährte als Nigeria: 45,4 Millionen Menschen, rund ein Fünftel der 220 Millionen Einwohner. In „Ernährungsunsicherheit“ leben sogar über 170 Millionen. Gut und sorglos essen ist in Afrikas bevölkerungsreichstem Land ein Luxus geworden.
Bewaffnete Konflikte sind ein Grund dafür. 80 Prozent des Getreides in Nigeria wird im Nordwesten und Nordosten des Landes angebaut – in Nigerias Kriegsgebieten. Im Nordosten wüten die islamistischen Terrorgruppen Boko Haram und ISWAP (Islamischer Staat der Provinz Westafrika), der Nordwesten wird von kriminellen Wegelagerern und Banditen heimgesucht, in Zentralnigeria kommen jahrzehntelange Landkonflikte dazu. Auch die Armee begeht Verbrechen im Kampf gegen bewaffnete Gruppen. Allein im ersten Halbjahr 2025 zählte Nigeria bei solcher Gewalt über 10.000 Tote. Die produktive Landwirtschaft ist weitgehend zusammengebrochen.
Geld fließt ins Öl, nicht in die Landwirtschaft
Seit Jahrzehnten vernachlässigt Nigeria seine Landwirtschaft. Kapital fließt in die Ölindustrie und in die Städte. Als die Regierung 2015 ein Kreditprogramm für Bauern auflegte, um die einheimische Nahrungsproduktion anzukurbeln, legten die Empfänger es lieber in Wechselstuben und Ölgeschäften an, enthüllte vor wenigen Tagen der frühere Regierungssprecher Bashir Ahmed. Laut der Zentralbank wurde nur die Hälfte der Kredite zurückgezahlt.
Produktiv im eigenen Land zu investieren, gilt in Nigeria als unattraktiv. In den vergangenen Jahren ist das Land massiv verarmt. Das Wirtschaftswachstum liegt fast jedes Jahr unter dem Bevölkerungswachstum. Der 2023 gewählte Präsident Bola Tinubu schaffte in einer seiner ersten Amtshandlungen die bisherigen Benzinsubventionen ab, womit sich die Treibstoffpreise verdreifachten und alles schlagartig teurer wurde, vor allem einheimische Lebensmittel.
Er gab auch den Wechselkurs der Landeswährung Naira frei, was sie absacken ließ und alle Importe automatisch verteuerte. Der Wert des gesetzlichen monatlichen Mindestlohns sank bis Mitte 2024 auf nur noch 17 Euro. Per Generalstreik erkämpften die Gewerkschaften eine Anhebung auf rund 40 Euro – trotzdem kostet eine Tankfüllung jetzt mehr als ein monatlicher Mindestlohn.
Die Preisexplosion bei Lebensmitteln ist in Nigeria so dramatisch wie kaum irgendwo auf der Welt. Die Grundnahrungsmittel Reis, Getreide, Kartoffeln oder Yamwurzeln kosteten laut UN Mitte 2024 fünfmal so viel wie 2019. Öffentlich über Hunger klagen war früher in Nigeria selten, heute ist es Alltag. Laut Regierung leben 56 Prozent unter der Armutsgrenze; vor sechs Jahren waren es 40 Prozent.
Keine Hungerhilfe in Sicht
Am 8. Juli schlug Nigerias Vizepräsident Kashim Shettima bei der Eröffnung eines nationalen Hungergipfels Alarm: 40 Prozent aller Kinder Nigerias seien unterernährt. Er sprach von einem „nationalen Notstand“. Nach amtlichen Angaben benötigen dieses Jahr 33 Millionen Menschen in Nigeria Hungerhilfe. Vergangenes Jahr waren es 25 Millionen.
Wo die Hungerhilfe herkommen soll, ist unklar. Nigeria mit seiner durch das Öl schwerreich geworden Elite hat keine Priorität auf der Rangliste der globalen Krisen. Einer der bislang wichtigsten Geber, die US-Entwicklungsbehörde USAID, fällt dieses Jahr dank Donald Trump aus. Das UN-Welternährungsprogramm WFP teilte vor einer Woche mit, aus Geldmangel müsse es Ende Juli die Versorgung von 1,3 Millionen Hungernden in Nigerias Nordosten einstellen.
Vor einem massiven Hungersnot warnen Hilfswerke in Nigerias Konfliktgebieten schon seit Jahren. Vergangene Woche schlug „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF) Alarm: 652 Kinder seien dieses Jahr allein im Bundesstaat Katsina in MSF-Einrichtungen an Hunger gestorben, bei 70.000 Einlieferungen, davon 10.000 in kritischem Zustand. Von 750 untersuchten Schwangeren seien über die Hälfte schwer unterernährt. Viele Gesundheitseinrichtungen seien entweder unerreichbar oder inexistent, Impfprogramme würden wegen Unsicherheit zusammenbrechen.
Die Armut sei dramatisch: „Immer mehr Menschen können sich nichts mehr zu essen kaufen“, sagte der Leiter von MSF in Nigeria, Ahmed Aldikhari. „Das Ausmaß der Krise übersteigt alle Vorhersagen.“
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