Kriegsverbrecher-Prozess: Anwalt macht Demjanjuk zum Opfer
John Iwan Demjanjuk ist der Beihilfe zum Mord in mindestens 27.900 Fällen angeklagt. Sein Anwalt stellt am ersten Prozesstag einen Befangenheitsantrag.
Der Angeklagte kommt durch eine der Seitentüren in das Rondell des Gerichtsaals 101/1 im Münchner Justizzentrum. John Iwan Demjanjuk sitzt in einem Rollstuhl, den Kopf weit nach hinten gelehnt.
Er trägt eine Lederjacke und eine Basecap, doch sein Körper verschwindet unter einer hellblauen Decke. Seine Augen sind nur zeitweise geöffnet, ab und zu sind Mundbewegungen zu erkennen. Zum Gericht sagt er kein einziges Wort. Der 89-jährige Mann bietet ein Bild des Jammers – und genau das scheint am ersten Prozesstag auch beabsichtigt zu sein.
John Iwan Demjanjuk ist der Beihilfe zum Mord in mindestens 27.900 Fällen angeklagt. Demjanjuk soll, so die Münchner Staatsanwaltschaft, im Jahre 1943 im NS-Vernichtungslager Sobibor im deutsch besetzten Polen Juden zusammen mit anderen ausländischen "Hilfswilligen" und unter Leitung der SS in die Gaskammern getrieben haben.
Das Sobibor-Verbrechen: Der Ukrainer Iwan Demjanjuk gerät 1942 als Sowjetsoldat in deutsche Kriegsgefangenschaft. Den Ermittlungen zufolge entscheidet er sich zur Kooperation mit den Nazis und wird als "Hilfswilliger" Aufseher im Vernichtungslager Sobibor im besetzten Polen. Im Oktober 1943 wird er in das bayerische KZ Flossenbürg abkommandiert und ist dort bis Dezember 1944 Wachmann. Anfang der 1950er-Jahre wandert er in die USA ein. Wegen falscher Angaben über seine Vergangenheit wird ihm 1981 die US-Staatsbürgerschaft aberkannt.
Der erste Prozess: Im Februar 1986 liefert ihn die US-Regierung an Israel aus. Ein Jahr später beginnt dort sein Prozess. Er endet am 25. April 1988 mit einem Todesurteil wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 800.000 Juden und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie das jüdische Volk. Er bestreitet bis zuletzt, jemals KZ-Wächter gewesen zu sein, und bezeichnet sich als Opfer einer Verwechslung. Nach der Verurteilung tauchen Beweise auf, die Zweifel an seiner Identität erhärten. Am 29. Juli 1993 hebt das Oberste Gericht Israels das Todesurteil auf. Demjanjuk kehrt in die USA zurück, wo er als Staatenloser bei seiner Familie in Seven Hills (Ohio) lebt.
Die Abschiebung: Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg sammelt neue Beweise. Im November 2008 übergibt sie das Material der Staatsanwaltschaft München. Ein Gutachten des bayerischen Landeskriminalamtes bestätigt die Echtheit eines Demjanjuk zugeordneten SS-Dienstausweises. Das Amtsgericht München erlässt darauf am 11. März 2009 Haftbefehl. Nach wochenlanger Auseinandersetzung wird Demjanjuk am 11. Mai von den USA abgeschoben und in der Haftanstalt Stadelheim inhaftiert.
Der zweite Prozess: Am 3. Juli gibt die Anklagebehörde bekannt, dass der mittlerweile 89-Jährige laut ärztlichem Gutachten verhandlungsfähig ist. Am 13. Juli erhebt die Staatsanwaltschaft München I Anklage wegen Beihilfe zum Mord in 27.900 Fällen. Am 1. Oktober lässt das Landgericht München II die Anklage zu. Demjanjunks Verteidiger legen eine Verfassungsbeschwerde ein, weil sie die Zuständigkeit der deutschen Justiz bezweifeln. Das Bundesverfassungsgericht weist die Beschwerde am 21. Oktober aber ab und macht damit den Weg für den Prozess frei.
Es ist der erste Prozess in Deutschland gegen einen dieser "Hilfswilligen", im konkreten Fall den gebürtigen Ukrainer Demjanjuk. Diese standen in der Befehlskette der Nazis beim Holocaust ganz unten und erledigten die Schmutzarbeit.
Demjanjuk, so der Vorwurf, sei einer von tausenden sowjetischen Kriegsgefangenen gewesen, die sich von den Nazis anwerben ließen, um jüdische Ghettos bei Morden und Deportationen abzusperren, Zwangsarbeiterlager zu überwachen oder eben im Vernichtungslager Juden fabrikmäßig umzubringen. Die Männer wurden im Lager Trawniki von der SS ausgebildet, weswegen sie auch als "Trawnikis" bezeichnet werden.
Staatsanwalt Hans-Joachim Lutz wirft Demjanjuk, anders als in bisherigen NS-Prozessen, keinen einzelnen konkreten Tötungsfall vor. Weil Sobibor einzig zur Ermordung von Menschen diente und Demjanjuk Teil dieses Mordsystems gewesen sei, sei seine Schuld erwiesen, heißt es in der Anklageschrift.
Der Münchner Prozess begann am Montag unter unwürdigen Umständen. Zuschauer und Journalisten mussten stundenlang eng gedrängt in der Kälte warten, ehe ihnen Einlass gewährt wurde. Unter ihnen befand sich auch ein Auschwitz-Überlebender.
Die Sicherheitskontrollen erinnerten an Terroristenprozesse. Für viele Interessierte reichte der Platz in dem nur etwa 150 Zuscher fassenden Gerichtsaal nicht aus. Etwa 35 Vertreter der Nebenkläger sind zu dem Prozess zugelassen, darunter zum größten Teil überlebende Verwandte von in Sobibor Ermordeten aus den Niederlanden. Das macht das Verfahren zu einem der größten NS-Prozesse in der Geschichte der Bundesrepublik.
Noch vor Verlesung der Anklage stellte Demjanjuks Verteidiger Ulrich Busch den Antrag, Gericht und Staatsanwaltschaft wegen Befangenheit abzulehnen. Er begründete dies damit, dass manche Nazi-Vorgesetzte Demjanjuks in einem Verfahren vor über 40 Jahren in Hagen freigesprochen wurden, weil diese unter einem "absoluten Befehlsnotstand" gestanden hätten.
"Befehlsnotstand" war in den frühen Jahren der Bundesrepublik ein gern genutzter Grund zum Freispruch. Er unterstellt, dass die Täter selbst mit dem Tode bedroht wären, hätten sie nicht ihrerseits Juden umgebracht.
Allerdings konnte bis heute kein einziger Fall nachgewiesen werden, in dem ein Verweigerer am Judenmord deswegen von anderen Nazis umgebracht wurde. Ein Vertreter der Nebenklage erwiderte, Fehler der deutschen Justiz in der Vergangenheit seien kein Grund, diese heute auch noch zu wiederholen.
Für ein empörendes Raunen im voll besetzten Gerichtsaal sorgte Buschs Behauptung, Demjanjuk stünde auf der gleichen Stufe wie der Nebenkläger Thomas Blatt – einer der wenigen Überlebenden von Sobibor, der selbst im Gerichtssaal anwesend war. Beide seien keine Täter, sondern Opfer, so Busch. Richter Ralph Alt verkündete, über den Antrag auf Befangenheit werde zu einem späteren Zeitpunkt entschieden.
Ein medizinischer Gutachter dementierte schließlich das Bild vom todgeweihten Angeklagten weitgehend. Zwar leide Demjanjuk an mehreren Krankheiten, darunter auch einer Herzschwäche. Er sei aber durchaus in der Lage, dem Verfahren zu folgen, wenn die Verhandlung auf zweimal 90 Minuten am Tag begrenzt werde. Demjanjuk sei in der Krankenabteilung der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim "gut versorgt". Noch am Morgen habe er Demjanjuk untersucht, alles sei "im normalen Bereich".
John Iwan Demjanjuk nahm diese Einlassung ohne jede Regung zur Kenntnis. Sein Prozess ist zunächst bis zum Mai nächsten Jahres terminiert. Er könnte sich aber auch über mehr als ein ganzes Jahr hinziehen.
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