■ Kriegsschiffe zu Schlafmünzen: Jungfernfahrt in den Schrott
Mit dicken Tauen ans Land gefesselt, dümpelt im Leeraner Hafen ein Marineschiff hin und her, als wolle es seinem Schicksal entrinnen. Das 48,90 Meter lange und 8,60 Meter breite Schiff mit dem Namen „Sellin“ ist ein Neubau und wartet doch auf seine unmittelbar bevorstehende Verschrottung. Das am Pier der „Interseroh Evert Heeren GmbH“ in Leer liegende Kriegsschiff wurde von 1989 bis 1990 auf der Peene-Werft GmbH Wolgast gebaut und an die Volksmarine übergeben. „Durch die Wiedervereinigung und die Auflösung der Streitkräfte der DDR wurde es nie in den regulären Dienst genommen“, sagt Martin Lichtfuss, der das Schiff für die ostfriesische Verschrottungsfirma kaufte.
Mit den zwei Schwesterschiffen „Neustrelitz“ und „Bad Düben“ bekam die „Sellin“ nach der Wiedervereinigung einen Liegeplatz in Neustadt/Holstein beim Bundesgrenzschutzamt See (BGS-See). Die ursprünglich als Raketenschnellboote konstruierten „grauen Pötte“ wurden zu Patrouillenbooten umfunktioniert. Während die Schwes-terschiffe inzwischen dem BGS-See unterstellt sind und für die 1996 gegründete Küstenwache eingesetzt werden, wartete die „Sellin“ im Hafen auf ihr Schicksal.
Das Ende des Schiffes war besiegelt als es die Vebeg (Verwertungsunternehmen des Bundes) mit Verschrottungsauflage zum Kauf anbot. Für einen Preis, den Lichtfuss nicht nennen möchte, kaufte die Leeraner Firma das Schiff inklusive 1800 Liter noch nachzuverzollendem Dieselkraftstoff. Am 9. April startete die „Sellin“ zu ihrer verspäteten Jungfernfahrt durch den Nord-Ostsee-Kanal und entlang der südlichen Nordsee bis in den Hafen von Leer zum geplanten tragischen Ende.
Vom Gelände des Leeraner Schrottunternehmens dröhnen malmende, quietschende und krachende Geräusche zur „Sellin“ herüber. „Diese Maschine heißt Schredder und kann bis zu 1,50 Meter breite und 8 Meter lange Stahlteile in fünfmarkstückgroße Stücke zerkleinern“, sagt Lichtfuss. Im Schlund dieses Monsters wird auch die noch unversehrte „Sellin“ enden.
Beim Rundblick von der Brücke des Schiffes wird Lichtfuss melancholisch: „Ein praktisch ungebrauchtes Schiff zu verschrotten tut auch weh!“ In wenigen Wochen werden auf dem Firmengelände mindestens zwei große Berge kleiner Metallteile mehr liegen. Der eine besteht aus dem Aluminium und der andere aus dem Stahl der dann ehemaligen „Sellin“. Vielleicht wird aus dem recycelten Material dann wieder ein Schiff gebaut. „Eines, das wirklich gebraucht wird“, meint Lichtfuss.
Hartmut Dirks, dpa
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