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Kriegsrecht über Tibet

■ Die chinesische Regierung verhängte Ausgangssperre / Nach dreitägigen Auseinandersetzungen möglicherweise schon 75 Tote / Hauptstadt Lhasa am Randes des Volksaufstandes

Peking/Berlin (ap/afp/taz) - Die chinesische Regierung hat am Dienstag nach dreitägigen blutigen Auseinandersetzungen über die tibetische Hauptstadt Lhasa das Kriegsrecht verhängt. Ab Mitternacht gilt eine Ausgangssperre in der zur Volksrepublik zählenden autonomen Region.

Auch am Dienstag zogen erneut wütende Tibeter mit einer Nationalflagge durch die Hauptstraße und verteilten Flugblätter mit der Aufforderung an den chinesischen Besatzer, Tibet sofort zu verlassen. Ein US-amerikanischer Reisender berichtete, im Stadtzentrum habe Polizei von Hausdächern aus auf demonstrierende Tibeter geschossen. Dabei habe es mindestens zwei Tote gegeben. Ein weiterer Tourist berichtete einige Stunden später, er habe beobachtet, wie die Polizei auf etwa 40 Tibeter geschossen habe, die zum Hauptplatz der Stadt marschiert seien. Keiner der telefonisch befragten Augenzeugen bestätigte, bewaffnete Tibeter gesehen zu haben. Die Zahl der Opfer seit Beginn des Aufstands liegt offiziellen chinesischen Angaben zufolge bei zwölf Toten und etwa hundert Verletzten. Tibetische Augenzeugen dagegen sprechen von bis zu 75 Toten und mehr als 200 Verletzten.

Der Korrespondent der englischen Tageszeitung 'The Guardian‘ berichtete, wie er Zeuge blutiger Grausamkeiten auf beiden Seiten wurde: Polizisten verprügelten Tibeter auf offener Straße und Tibeter steinigten chinesische Ladenbesitzer. Von seinem Hotel, in dem er Zuflucht gesucht hatte, habe er beobachten können, wie die Polizei zwei junge Männer in völliger Willkür erschoß. Kurze Zeit später seien wütende Tibeter mit einem Leichnam singend durch die Straße gezogen. Ausländische Touristen hätten beobachtet, wie auch Kinder von der Polizei erschossen worden seien.

Die Unruhen erfolgten nur wenige Tage vor dem 30. Jahrestag des blutig niedergeschlagenen tibetischen Volkaufstands gegen die chinesische Herrschaft vom 10. März 1959. Der tibetische Religionsführer, der Dalai Lama, floh damals ins indische Exil. Die jüngsten Auseinandersetzungen begannen am Sonntag, als sich in Lhasa Mönche und Nonnen zu einem Demonstrationszug formierten, denen sich später Hunderte von Tibetern anschlossen.

Viele Han-Chinesen packen offenbar mittlerweile ihre Koffer, um Tibet endgültig zu verlassen. In Chendu in Südwestchina, dem Ausgangsort vieler Tibetreisender, erhielten Individualtouristen keine Genehmigung für das Himalayagebiet. Tibetische Separatisten planen für die kommenden Tage Massendemonstrationen für die Unabhängigkeit ihrer Region. Nahe der 70.000 Einwohner zählenden Hauptstadt sind Armeekräfte aufgezogen worden. Nach Angaben von informierten Diplomaten befindet sich Lhasa am Rande des Aufstands.

henk

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