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Krieg in der UkraineSumy trotzt weiter dem russischen Terror

Am Palmsonntag töteten zwei ballistische Raketen aus Russland in Sumy mindestens 35 Menschen. Unsere Autorin hat viele Angriffe in der Stadt erlebt.

Die Orchestermusikerin Olena Kohut wurde beim russischen Angriff am Palmsonntag getötet. Ihre Mutter Natalia nimmt Abschied Foto: Evgeniy Maloletka/ap

Sumy/Kyjiw taz | Den russischen Raketenangriff am Palmsonntag erlebten die Teilnehmer des 3D-Clubs im Luftschutzbunker des Kongresszentrums der Staatlichen Universität Sumy. Dort fand ihr Unterricht statt. „Nach der ersten Explosion haben wir nicht einmal bemerkt, dass uns ein Schlag getroffen hatte“, sagt Witali Ivach. „Der Putz fiel herunter, der Alarm ging los, aber wir beschlossen, nicht hinauszugehen. Nach der zweiten Explosion war klar, dass wir evakuieren mussten. Doch die Türen klemmten.“

Beim Versuch, durch das Theater zu fliehen, fanden sich die Menschen zwischen Trümmern und Betonplatten wieder, überall roch es nach Gas. Sie beschlossen, umzukehren. Glücklicherweise kamen einige Stadtbewohner von draußen und halfen dabei, die Tür zu öffnen.

Bei den Theaterräumen, von denen Witali spricht, handelt es sich um die Bühne, auf der seit fünf Jahren das Familientheater „Njankiny“ und das Kinderstudio „Repjach“ zu Hause sind.

Eine der russischen Raketen zerstörte das Kindertheater. 40 Minuten später hätte dort eine Vorstellung beginnen sollen

Eine der beiden russischen ballistischen Raketen zerstörte all dies und durchdrang sogar die Schutzkonstruktionen. 40 Minuten später hätte dort eine Kindervorstellung beginnen sollen. Glücklicherweise waren die Mitglieder der Theatertruppe jedoch nicht rechtzeitig angekommen.

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Herzlicher Empfang

Vor fünf Jahren fand im Kongresszentrum der Staatlichen Universität Sumy meine erste Fotoausstellung statt. Sie war der visuellen Anthropologie gewidmet – durch Fotografien wollte ich die kulturelle Vielfalt zeigen, die ich mehrere Jahre lang in verschiedenen Ländern dokumentiert hatte. Das Zentrum bereitete mir einen herzlichen Empfang: Es stellte zwei Wochen lang einen Saal zur Verfügung und zwanzig Rahmen für Triptychen. Täglich hielt ich Vorträge für Interessierte.

Für viele Einwohner von Sumy ist das Kongresszentrum zu einem Symbol für Bildung, Kreativität und Dialog geworden. Hier fanden Tagungen, Veranstaltungen für Kinder und Aufführungen statt, es gab eine Bibliothek und ein Geldmuseum.

Im kommenden Sommer wollte ich mein Projekt erneut starten – und zwar genau hier, im Kongresszentrum meiner Heimatuniversität, in meiner Heimatstadt. Doch am 13. April, dem Palmsonntag, zerstörte eine russische Rakete das Gebäude. Zerstört wurden auch meine Pläne sowie die Pläne Tausender Einwohner von Sumy, für die dieses Zentrum während des Krieges zu einem lebenswichtigen Ort geworden ist.

Am selben Tag wurde ein weiteres Gebäude der Universität beschädigt. In seiner Nähe wurden 35 Menschen getötet und mehr als 120 verletzt. Laut Rektor Vasyl Karpuscha werden die Verluste auf Hunderte Millionen Hriwna geschätzt. Das Schicksal der Gebäude müssen jetzt Experten klären, aber die beiden Medizinstudenten, die an diesem Tag starben, bringt niemand zurück.

Persönliche Tragödie

Für jeden Einwohner von Sumy wurde dieser Terroranschlag zu einer persönlichen Tragödie. Leider war es nicht der erste – und auch nicht der letzte. Mit erschreckender Regelmäßigkeit werden wir Zeugen, wie die Russen unsere Stadt, unsere Menschen und unsere Universität zerstören, die die Stadt so geprägt hat.

„Einigen Angaben zufolge sind 75 bis 80 Prozent der in Sumy tätigen Ärzte unsere Absolventen“, sagt der Rektor der Universität, Wassili Karpuscha. „Hätten Spezialisten aus anderen Regionen in den Krankenhäusern der Stadt gearbeitet, wären sie angesichts des Krieges, des ständigen Beschusses und der Blockaden kaum geblieben. Dies hätte zum Zusammenbruch der Medizin in der Region führen können. Aber dank unserer Absolventen funktioniert das Gesundheitssystem weiterhin.“

Zu Beginn des laufenden akademischen Jahres verlor die Universität bereits eines ihrer Gebäude durch einen direkten Treffer einer Bombe. Von den Abteilungen für Pathologie, öffentliche Gesundheit, elektrische Energie und der Sporthalle waren damals nur noch Ruinen übrig geblieben. Seit dem Ende des Sommers 2024 ist die Region einer ständigen Bedrohung ausgesetzt. Alle Studenten der Region sind auf Onlineunterricht umgestiegen.

Ich beneide die Studenten nicht. Den jungen Menschen wird die Möglichkeit genommen, offline zu lernen, zu kommunizieren, Veranstaltungen abzuhalten und Partys zu feiern. Seit drei Jahren gilt in Sumy eine Ausgangssperre zwischen 23 und 5 Uhr morgens. Die Russen haben den Einwohnern von Sumy jetzt auch noch die wenigen Freuden des Studentenlebens gestohlen.

Im Basketballteam

Ich hingegen hatte, was das angeht, Glück. Seit meiner Schulzeit, seit der neunten Klasse, habe ich im Basketballteam der Universität gespielt. Bis heute ist das Uni-Team mein wichtigster Freundeskreis. Russlands Angriffskrieg hat jeden von uns betroffen.

Olga Maiboroda hat die Fakultät für Mechanik und Mathematik absolviert und arbeitete anschließend in einer Fabrik, die im August 2024 bombardiert wurde. Sie kam mit Kratzern und einem Schock davon, doch zwei ihrer Kollegen wurden getötet.

Lilja Snagoschchenko, die Mittelstürmerin unseres Teams, wurde Neurologin im Bezirkskrankenhaus. Wir wohnen Tür an Tür. Als an einem Samstagmorgen im September zwei russische Kamikaze-Drohnen dieses Krankenhaus angriffen – nur 300 Meter von unseren Häusern entfernt – eilte sie ihren Kollegen zu Hilfe, und ich ging als Reporterin einer Lokalzeitung mit meiner Kamera dorthin.

Wir trafen uns mitten im Chaos: Blut, Verwundete, Schreie, Feuer. Zehn Minuten später wurde gemeldet, dass eine dritte Drohne im Anflug sei. Die Menschen versuchten, irgendwo Schutz zu finden. Es gelang mir, etwa 150 Meter Abstand zu gewinnen. Lilja hatte weniger Glück.

Zehn Meter weit geschleudert

„Ich rannte und es schien, als würde die Drohne direkt auf mich zufliegen“, erinnert sich Lilja. „Die Anweisungen besagten, ich solle mich auf den Boden legen, aber etwas sagte mir, ich solle weiter laufen.“ Diese wenigen Meter retteten ihr das Leben.

Die Drohne traf eine Menschenmenge und Rettungskräfte, und Lilja wurde durch die Druckwelle zehn Meter weit geschleudert. An der Stelle, wo sie sich ursprünglich hatte fallen lassen wollen, starben fünf Menschen. Als ich zu ihr rannte, humpelte sie, war etwas geschockt, versuchte aber immer noch, anderen zu helfen. „Noch einen Monat danach empfing ich Verletzte in meinem Behandlungszimmer – diejenigen, die meine ‚Kameraden im Unglück‘ geworden waren. Zwischen den Patiententerminen habe ich ein Hämatom an meinem Oberschenkel behandelt“, sagt Lilja.

Ein weiteres Mitglied unseres Basketballteams, Switlana Rybaltschenko, blieb auch nach ihrem Abschluss innerhalb der Mauern ihrer Alma Mater. Heute ist sie Kandidatin der Wirtschaftswissenschaften und Assistentin am Institut für Management.

Der Raketenangriff vom Sonntag brachte für Switlana zusätzliche Arbeit mit sich, allerdings nicht in ihrem Fachgebiet: Die gesamte Belegschaft des Instituts für Finanzen, Wirtschaft und Management war damit beschäftigt, die Trümmer ihrer ehemaligen Abteilungen aufzuräumen.

Erster Platz

Trotz des Krieges hat sich die Universität die Qualität ihrer Ausbildung bewahrt. Im vergangenen Herbst belegte sie im internationalen „Times Higher Education“-Ranking den ersten Platz unter den ukrainischen Hochschulen. Im Oktober wurde sie assoziiertes Mitglied der Europäischen Universitätsallianz E³UDRES², wodurch die akademischen Verbindungen ausgebaut und ein Zugang zu internationalen Bildungs- und Wissenschaftsinitiativen, einschließlich Studenten- und Fakultätsaustausch, möglich wurden. Nach der Tragödie vom 13. April haben die Mitglieder der Allianz bereits Sitzungen abgehalten und suchen jetzt nach möglichen Formen der Unterstützung der Hochschule.

„Die Rakete hat unser Haus und alles, was darin war, zerstört: Lichter, Tontechnik, Möbel, Dekorationen, Kostüme, Requisiten – alles, was wir im Laufe von acht Jahren geschaffen hatten“, erzählt die Gründerin des Familientheaters „Njankiny“, Tetjana Njankina. „Doch unsere 25 Schauspieler und über 90 Kinder und Jugendliche geben nicht auf – genauso wenig wie die Teilnehmer unseres jugendinklusiven Thea­ters ‚Wir sind da‘.“

Dem Schauspieler- und Regisseurpaar Njankin ist klar, dass jetzt nicht die Zeit ist, der Verzweiflung nachzugeben, damit der Elan der Kinder und ihrer Eltern aufrechterhalten wird. Bis zum Ende der Woche wollen sie einen neuen sicheren Ort finden und ihr Stück trotzdem aufführen. Die Kinder stünden unter Schock und vermissten ihr Theater, sagt Tetjana. „Eine unserer kleinen Schauspielerinnen bittet uns, in den Ruinen ihren Lieblingsspielzeugdrachen zu suchen, den sie früher auf die Bühne mitgenommen hat.“

Die Einwohner von Sumy kämpfen weiter und bleiben optimistisch. Auch unsere Universität. Ihr Kongresszentrum war für viele ein wichtiger Ort der Selbstverwirklichung. Wir glauben an einen Wiederaufbau – und werden mit Fotoausstellungen, Performances, Vorträgen, Konferenzen und Filmen dorthin zurückkehren. Ich hoffe, dass sie sich nicht nur dem Krieg widmen werden.

Aus dem Russischen von Barbara Oertel

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