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Foto: Roman Pilipey/EPA

Krieg in der UkraineNach den Russen die Flut

In den ersten Kriegstagen versuchte die russische Armee, Kyjiw in einem Blitzangriff von Norden aus einzunehmen. Im Weg lag ihnen das Dorf Demydiw.

D er Wind weht kalt über die Deichkrone, der Himmel über Demydiw ist blau. Das Dorf in der Region Kyjiw liegt ruhig und idyllisch da: Viele Bewohner sind tagsüber zur Arbeit in der knapp 40 Kilometer entfernten Hauptstadt. Hin und wieder bellt ein Hund, oder eine Katze streicht um die Beine der seltenen Besucher. Vor der Deichkrone breitet sich kilometerweit eine Wasserfläche aus. Am gegenüberliegenden Ufer in anderthalb Kilometer Entfernung sind einzelne Häuser und ein großer Kiefernwald erkennbar.

Was aussieht wie ein See, ist eine Folge der Kämpfe, die in der Region vor zwei Jahren tobten. Damals wurde die Niederung am Fluss Irpin absichtlich geflutet, um die russischen Invasionstruppen zu stoppen. Das Dorf leidet noch heute darunter. Betroffen sind besonders die Menschen, die in den ersten Häuserreihen hinter dem Deich wohnen. In der Irpinksa-Straße sickert das Wasser durch den Deich und bildet knöcheltiefe Pfützen in den Gärten. Das Grundwasser drückt in die Keller.

Hryhoriy Dziuba kommt am Vormittag von einem Besuch bei seiner Tochter zurück. Der 65-Jährige bewohnt das Haus, das am nächsten am Deich steht. Er trägt ausgetretene schwarze Turnschuhe und eine abgewetzte beige Jacke. Dziuba ist Rentner, und er ist kein wohlhabender Mann. Sein ganzes Berufsleben hat er in der Landwirtschaft gearbeitet, erst in der Kolchose und dann für deren Nachfolgeunternehmen. Das Haus ist alles, was er hat. Dziuba erinnert sich an die ersten Tage der Invasion, als die russischen Soldaten ins Dorf kamen. „Auf der Straße stand ein BMP“, erzählt er. Das sind Schützenpanzer sowjetischer Bauart. Nach ein paar Tagen seien sie wieder fort gewesen. Wegen des Wassers kamen sie in Demydiw nicht mehr weiter.

Im Februar 2022 hat Russland versucht, die ukrainische Hauptstadt von Norden her anzugreifen. Von der Grenze zum Nachbarland Belarus, wo Kreml-Chef Wladimir Putin die Truppen seines östlichen Militärbezirks aufmarschieren ließ, sind es bis zum zentralen Maidan-Platz in Kyjiws Zentrum nur 140 Kilometer. Der überraschende Vorstoß sollte Kyjiw und mit ihm die Ukraine in drei Tagen zu Fall bringen. Und der kürzeste Weg nach Kyjiw führt durch Demydiw.

Ein zweiter Weg führt nicht weit von Demydiw über einen Damm, der das aufgestaute Wasser des Dniprostausees nördlich von Kyjiw zurückhält. Der Wasserspiegel dieses Stausees ist sieben Meter höher als der Fluss Irpin. Deshalb steht in der Nähe des Dorfes Kozarovychi, wo einmal die Flussmündung war, seit Jahrzehnten ein Wehr mit einem Schöpfwerk, das das Wasser des Irpin nach oben bugsiert. Dieses Wehr wurde am zweiten Kriegstag von der ukrainischen Armee gesprengt, als sich die russischen Panzerkolonnen näherten.

Wasser aus dem Stausee ergoss sich in die Flussniederung des Irpin und machte sie binnen eines Tages unpassierbar. Dutzende Kilometer flussaufwärts stieg der Wasserpegel. Die nächste Möglichkeit, nach Kyjiw zu kommen, hatten die Russen erst in der Stadt Irpin selbst. Dorthin verlagerten sich dann auch die Kämpfe.

Dass die ukrainische Armee den Damm ­gesprengt hat, könne er verstehen, sagt Dziuba. Man habe sie stoppen müssen. Aber er habe zuvor nicht gewusst, dass das Wasser so hoch steigen würde.

Gleich vor Dziubas Haus liegen nun drei dicke Feuerwehrschläuche in der aufgeweichten Erde. „Dahinten steht eine der Pumpen“, sagt er und deutet zu einem Tümpel ein paar Dutzend Meter weiter die Straße entlang, wo inzwischen sogar Schilf wächst. Wenn dort das Wasser zu hoch steige, springen die Pumpen an. Aber im Moment ist es still. Dziuba tritt einen Schlauch platt: „Kein Druck drauf.“

Er zündet sich eine Zigarette an und geht zu seinem Zaun. Auf dem dunkelgrün lackierten Blech kann man noch gut erkennen, wie hoch das Wasser einmal stand. Dziuba muss es an dieser Stelle fast bis zur Hüfte gegangen sein. Noch immer stehen die Fundamente des Zauns in einer Pfütze aus brackigem Wasser. „Der Wasserpegel ist im ganzen Ort der gleiche“, sagt er. Wenn man in den etwas höhergelegenen Gärten nebenan ein Loch grabe, stoße man sofort auf Wasser.

Auch die tiefer gelegene Hälfte seines Gartens sei wochenlang unter Wasser gewesen. Im oberen Teil sind Gemüsebeete zu erkennen. „Kartoffeln, Möhren, Rote Bete“, Dziuba zählt auf, was er in seinem Garten anbaut. Aber es sei weniger als früher. Im unteren Teil sei der Boden zu feucht, alles verfaule. Ohne die Hilfe seiner Töchter wäre er aufgeschmissen. Er könne sich nicht leisten, alles im Laden zu kaufen.

Früher habe er noch eine eigene Kuh gehabt. Er deutet auf einen Stall neben dem Wohnhaus. Als das Wasser stieg, habe er Holzpaletten aufgeschichtet, damit seine Kuh nicht im Wasser steht. Jeden Tag sei er durch das kalte Wasser gewatet, um die Kuh zu melken. Schließlich habe er das Tier weggegeben, auch wenn das Wasser im Stall wieder gesunken ist. Aber die Weide ist auf der anderen Seite des Deichts ist seit zwei Jahren überschwemmt. Und Futter für die Kuh zuzukaufen habe er sich nicht leisten können, sagt Dziuba. Nun muss er Milch kaufen, aber das kann er sich auch nicht leisten. Aus seinem feuchten Haus will er trotzdem nicht ausziehen, obwohl eine seiner Töchter in der Nähe wohnt und Platz hätte.

Er habe sein Haus selbst gebaut, sagt er. Und er will nicht zum zweiten Mal dem Wasser weichen. „Als ich fünf Jahre war, musste meine Familie das Dorf Birky verlassen.“ In den 1960er-Jahren wurde der Kyjiwer Stausee gebaut. Dafür wurden Birky, Dziubas Geburtsort, und noch eine Reihe anderer Dörfer überflutet. Der Stausee ist doppelt so groß wie der Bodensee und bis zu 20 Kilometer breit. Die Bewohner wurden umgesiedelt. Am Ortseingang von Demydiw erinnert heute ein ­Gedenkstein daran. So kam Dziuba nach Demydiw.

Hryhory Dziuba klagt nicht. Er sieht sein Schicksal eher im größeren Zusammenhang: So wie sein Haus und sein Dorf geflutet wurde, um Kyjiw zu retten, kämpfe die Ukraine auch für Europa.

Er erinnert sich, wie er als Teenager über die heute überfluteten Felder ins Nachbardorf zu seiner späteren Frau gelaufen ist. „Kartoffeln wurden dort angebaut. Und Kohl“, zählt er auf. Nun stehe alles unter Wasser. Und selbst wenn das Wasser eines Tages wieder verschwinde, werden wohl Spuren des Krieges bleiben: Man wisse schließlich nicht, was noch alles an Munition, Treibstoff oder Chemikalien unter Wasser liege. Auch die genauen Schäden an den Gebäuden werde man erst herausfinden, wenn sie wieder trocken sind.

Dziuba klagt nicht. Er sieht sein Schicksal eher im größeren Zusammenhang: So wie sein Haus und sein Dorf geflutet wurde, um Kyjiw zu retten, kämpfe die Ukraine auch für Europa. Er würde sich nur wünschen, dass der Wasserstand ein bisschen reduziert würde. Schon ein paar Zentimeter machen in seiner Lage etwas aus.

Kyjiws Bürgermeister Vitali Klitschko sah im Winter die Gefahr einer erneuten russischen Offensive in Richtung der ukrainischen Hauptstadt. „Kyjiw war ein Ziel und bleibt ein Ziel für Putin, weil die Hauptstadt das Herz des Landes ist“, sagte er. Man müsse immer alle Szenarien einkalkulieren.

Akut ist dieses Szenario offenbar nicht. In den täglichen Frontberichten des ukrainischen Generalstabs hieß es über Monate, dass die operative Lage in den Sektoren Volyn und Poliyssia unverändert sei. Das sind die Regionen an der Grenze zu Belarus. „Es gibt keine Anzeichen für die Bildung feindlicher Angriffsgruppen.“ Seit Mitte Mai fehlen diese Sektoren in den Berichten. Doch das kann sich auch wieder ändern.

Hryhoriy Dziuba verlor seine Kuh an das Hochwasser, weil er kein Geld für Futter hatte. Geld für Milch hat er aber auch nicht Foto: Olena Makarenko

Die Furcht vor einem erneuten Angriff sei jedenfalls der Grund, warum das Wasser aus der Niederung des Irpin-Flusses nicht abgepumpt werde, erklärt Volodymyr Pidkurhannyi. Er leitet die Verwaltung der Gemeinde Dymer, zu der auch Demydiw gehört. Zum zweistöckigen Gebäude der Verwaltung in Dymer führt ein asphaltierter Fußweg. Die noch winterlich kahlen Blumenbeete sind mit Feldsteinen eingefasst. Im Erdgeschoss nehmen die Sachbearbeiterinnen im Bürgeramt Antragsformulare entgegen. Noch ist nicht alles digitalisiert. Im Obergeschoss empfängt Pidkurhannyi spontan in seinem hellgrün getünchten Büro.

Er kennt die Lage und die Entwicklung, weil er die ganze Zeit vor Ort war. Zur Gemeinde gehören 33 Dörfer und das Städtchen Dymer mit zusammen rund 24.000 Ein­woh­ne­r*in­nen – das allerdings vor der Invasion gezählt, erklärt er. Manche der Siedlungen sind landwirtschaftlich geprägt, andere sind eher Vororte, wo sich Kyjiwer, die es sich leisten konnten, ein Haus im Grünen gebaut haben. Dass das Gemeindegebiet mal eine Schlüsselregion in einem Krieg werden würde, hat man nicht erwartet.

„Heute ist die Situation viel besser als vor zwei Jahren“, versucht Gemeindevorsteher Pidkurhannyi das Positive zu sehen. Schon kurz nachdem die Besatzer abgezogen waren, habe man Pumpen installiert. Noch heute sorgen mehrere dafür, dass das durchsickernde Wasser wieder abgepumpt wird.

Doch am Grundproblem, nämlich der gefluteten Irpin-Niederung, ändere das nichts, räumt auch der Gemeindevorsteher ein. Das gesprengte Wehr sei ein Infrastrukturobjekt von strategischer Bedeutung und sei Sache der Regierung. Als Gemeindevorsteher kann er zwar etwas zu den Problemen sagen, aber nichts entscheiden. „Die Leute sind unzufrieden, und ich verstehe sie vollkommen.“ Aber das sei die heutige Realität. Man müsse nur in den Osten und in den Süden der Ukraine schauen, die Bedingungen, unter denen die Menschen dort in der Nähe der Front mit den ständigen russischen Angriffen lebten: „Ich denke, wir können dieses Wasser ertragen.“ Besser als jetzt werde es erst mal nicht.

In Bezug auf andere Probleme habe sich aber viel getan. „Nach der Okkupation gab es keinen Strom, kein Gas und kein Internet.“ Das sei alles wiederhergestellt. In der Gemeinde wurden 1.400 Gebäude durch Kampfhandlungen beschädigt oder zerstört. Die Besatzer hatten Schulen und Verwaltungsgebäude als Unterkünfte genutzt und beim Abzug verwüstet.

Einige Schäden lassen sich rasch reparieren. Andere dürften Jahre in Anspruch nehmen. Teuer wird es in jedem Fall. Laut einer Schadens- und Bedarfsanalyse der EU-Kommission, der Vereinten Nationen, der Weltbank und der ukrainischen Regierung belaufen sich die Gesamtkosten für den Wiederaufbau der Ukraine auf 452,8 Milliarden Euro.

Allein im laufenden Jahr werde das Land rund 14 Milliarden Euro für Sofortmaßnahmen auf nationaler und kommunaler Ebene benötigen, heißt es in der Analyse weiter. Landesweit sei jede zehnte Wohnung beschädigt oder zerstört. Die Berechnungsgrundlage stammt vom Jahreswechsel. Durch ausgeweitete russische Luftangriffe auf Städte wie Odessa im Süden und zuletzt massiv auf Charkiw im Osten sowie auf die Kraftwerke und Energieinfrastruktur landesweit dürfte sich die Zahl noch erheblich erhöht haben.

Mit der Frage des Wiederaufbaus soll sich im Juni eine eigene Konferenz in Berlin befassen. Bei der Ukraine Recovery Conference soll es nicht nur um staatliche Nothilfen gehen, sondern darum, wie Zivilgesellschaft und Wirtschaft eingebunden werden können. Neben der Finanzierung muss auch beantwortet werden, was überhaupt sinnvoll ist, solange Russland nicht von seinem Nachbarland ablässt.

Nach einem ukrainischen Sieg, so Pidkurhannyi, solle der zerstörte Damm natürlich wieder aufgebaut werden. Dazu gebe es bereits ein Abkommen mit einem südkoreanischen Unternehmen. Im Januar hatte das ukrainische Umweltministerium eine Kooperation mit zwei koreanischen Firmen bekannt gegeben. Kostenschätzung: 14 Millionen US-Dollar.

In Demydiw ist Tetjana gerade mit zwei Freundinnen auf dem Heimweg. Mit Jour­na­lis­t*in­nen will die Rentnerin eigentlich nicht sprechen, aber nach ein paar Fragen sprudelt es doch aus ihr heraus. In der Hand hält sie einen Stock mit einem langen Nagel an einem Ende. Gerade habe sie mit ihren Freundinnen Abfall eingesammelt, den Angler am Deich zurückgelassen hätten. Die große Wasserfläche zieht besonders am Wochenende Besucher aus Kyjiw an, die auf einen guten Fang hoffen. Auf dem Fußweg zum Deich ist ein Schild an einem Maschendrahtzaun aufgehängt: Darauf steht, dass Angeln verboten ist, genauso wie Schwimmen und Abfall zurückzulassen. Doch die Besucher halte das nicht ab. Tetiana schimpft. „Angeln ist ja okay, aber man könnte doch wenigstens seinen eigenen Müll mitnehmen.“

Sie erklimmt den Trampelpfad zur Deichkrone. Neben Anglern hat das viele neue Wasser auch andere Neubewohner angezogen. Eine Gruppe Enten gackert zwischen den Weiden am Wasserrand. Tetiana zeigt ein Video auf ihrem Smartphone: im seichten Wasser schwimmen ein paar Schwäne vorbei. Ungefähr jeder fünfte Baum in Deichnähe liegt auf der Seite – mit deutlichen Bissspuren von Bibern an den Stämmen. Die habe es früher hier nicht gegeben, meint Tetiana.

Mit Schrecken erinnert sie sich an den Morgen des 24. Februar 2022. Als sie von der Invasion gehört habe, sei ihre Tochter noch schnell zum ­Lebensmittelladen gegangen, in dem sie arbeite: „Wir haben angenommen, dass es bald nichts mehr geben wird.“ Als sie dort angekommen sei, hätten schon russische Panzer davor gestanden.

Mit neun weiteren Menschen, Familienangehörigen und Freunden, habe sie sich im Keller versteckt. „Anfangs stand der Keller noch nicht unter Wasser. Kalt und feucht war es trotzdem.“ Die russischen Soldaten hätten über die Dächer hinweg auf die andere Seite des Flusses geschossen. „Nach vier Tagen haben wir uns wieder nach oben getraut.“

In jenen Tagen sei dann das Wasser gekommen, erinnert sie sich. Anfangs hätten die Dorfbewohner versucht, es mit Sandsäcken in ihren Gärten aufzuhalten. Doch es habe sich herausgestellt, dass das nichts bringt. Von der Deichkrone kann man ihr Grundstück sehen. Am tiefsten Punkt sammelt sich heute noch Wasser. Tetiana hat auf Holzlatten einen kleinen Steg darüber gebaut.

„Ich denke, wir können dieses Wasser ertragen“: Wolodymyr Pidkurhannyi ist der Gemeindevorsteher für Demydiw Foto: Olena makarenko

Nach rund fünf Wochen seien die Moskauer Truppen eines Morgens fort gewesen. Von Übergriffen auf die Zivilbevölkerung habe sie im Ort nichts gehört. Man habe wohl Glück gehabt, meint Tetiana. Dennoch merkt man ihr die Wut an, wenn sie über die Invasoren spricht. Auch aus ihrer Familie seien Soldaten an der Front. „Gott sei Dank haben wir hier überlebt. Ich habe lieber zehn Jahre Wasser im Keller als einen weiteren Tag Russen in meinem Dorf.“

Die Angst sei nicht vorbei. Immer wieder höre sie russische Kamikazedrohnen und Marschflugkörper nahe des Dorfes Richtung Kyjiw fliegen. „Wenn unsere Armee nicht besser mit Waffen versorgt wird, dann sind das Baltikum und Polen die nächsten Länder, die die Russen angreifen werden“, ist Tetiana überzeugt. „Wenn sie unser Land erobern, werden sie nicht aufhören.“

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