Krieg in Äthiopien: „Eine neue politische Struktur“
Welche Ziele verfolgen die Tigray-Rebellen in Äthiopien? Ein Vertreter gibt Einblicke – zum Beispiel über eine etwaige Unabhängigkeit Tigrays.
Geplant ist eine Übergangsregierung auf Grundlage des Bündnisses, das die TPLF am 5. November in Washington mit acht bewaffneten Gruppen aus anderen Ethnien und Regionen Äthiopiens schloss – Afar, Agaw, Benishangul, Gambella, Kimant, Oromo, Sidama und Somalia. An der Kriegsfront hat die TPLF bereits eine Zusammenarbeit mit der Oromo-Rebellengruppe OLA (Oromo-Befreiungsarmee) verkündet, die Teile der Region Oromia rings um die Hauptstadt Addis Abeba kontrolliert.
Die Übergangsregierung „würde unter ihren Bestandteilen über die Zukunft des Landes beraten“, sagt Merkeb Negash. „Sie würde eine neue politische Struktur beschließen, die Tigray und Oromia mehr Autonomie gibt“. Er erinnert daran, dass das neue Rebellenbündnis für „Demokratie, Gleichheit und Selbstbestimmung“ kämpfe. Es wolle auch „Offizielle des Regimes und ihre Kollaborateure bei schweren Menschenrechtsverletzungen und Völkermordverbrechen“ strafrechtlich zur Rechenschaft ziehen.
Gegen Abiy Ahmed vertritt der TPLF-Diplomat eine harte Linie. Er macht den äthiopischen Ministerpräsidenten für eine gezielte Kampagne gegen Tigrayer verantwortlich. Seine Regierung erkenne man nicht an, denn sie sei aus „Scheinwahlen“ ohne Opposition hervorgegangen.
Alle Optionen bleiben offen
Ein Problem für jede neue äthiopische Regierung wäre, dass sie Eritrea zum Feind hätte – Eritreas Armee hat der äthiopischen Armee bei ihrer Repression in Tigray geholfen. Doch eine TPLF-geführte Übergangsregierung, da ist sich Merkeb Negash sicher, könnte gute Beziehungen zu allen Nachbarn aufbauen.
Reisediplomatie: Es laufen intensive Bemühungen um eine Entspannung in Äthiopien. US-Sonderbeauftragter Jeffrey Feltman kehrte am Dienstag aus Kenia in die Hauptstadt Addis Abeba zurück und beriet mit den Sonderbeauftragten von UNO und AU, die am Montag Gespräche in Tigrays Hauptstadt Mekelle mit der TPLF geführt hatten. Währenddessen sind die Kämpfe abgeflaut.
Verhaftungen: Am Dienstag wurden im Rahmen der Massenfestnahmen von Tigrayern in Addis Abeba 22 lokale UN-Mitarbeiter festgenommen. Auch 72 Fahrer des UN-Welternährungsprogramms WFP sind in Haft. (afp/taz)
Er erinnert an die Regierungszeit des historischen TPLF-Führers Meles Zenawi als Ministerpräsident Äthiopiens von 1991 bis zu seinem Tod 2012: „Zu Sudan hatten wir damals immer gute Beziehungen. Sie haben sich verschlechtert, vor allem wegen des Streits über den Staudamm“ – der Renaissance-Staudamm am Blauen Nil in Äthiopien, den Sudan und Ägypten kritisch sehen. „Wir wollen die guten Beziehungen reaktivieren. Die Sudanesen haben unsere Flüchtlinge aufgenommen. Sie sind sehr hilfreich gewesen.“
Den TPLF-Diplomaten im Ausland kommt zugute, dass sie zumeist lange Jahre führende äthiopische Diplomaten gewesen sind und ihre Gesprächspartner kennen. „Wir treffen europäische Politiker und Diplomaten“, erklärte Merkeb Negash über seine Arbeit in Brüssel und äußert seine „Anerkennung für die humanitäre Hilfe der EU für die Flüchtlinge und ihre Bemühungen, humanitären Zugang nach Tigray zu erhalten“. Er betont auch positiv, dass die EU in der Vergangenheit einen Dialog zwischen der TPLF und Äthiopiens Regierung herbeizuführen versucht hat – eine Option, die laut Merkeb Negash aktuell nicht zu existieren scheint: „Abiy will nicht verhandeln“, kritisiert er.
Letztendlich wird aus den Worten des Diplomaten deutlich, dass die TPLF sich alle Optionen offenhält – sogar eine Sezession. „Die Zukunft Tigrays kann nur das Volk Tigrays in einem Referendum entscheiden“, sagt er. „Ob das die Unabhängigkeit ist oder ein anderes Arrangement, kann nur das Volk Tigrays entscheiden, keine politische Partei.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja