Krieg im Jemen: Vom Zufluchtsort zur Riesenstadt
Im Jemen sind Millionen Menschen innerhalb des Landes auf der Flucht. Vor allem die Stadt Marib ist derzeit umkämpft.
Marib ist die letzte Bastion der jemenitischen Regierung im Nordes des Landes, nachdem diese schon 2014 die Hauptstadt Sanaa und weite Teile des Staatsgebiets an die vom Iran unterstützten Huthis verloren hatte. Seit Monaten nun versuchen die Huthis, auch Marib einzunehmen, denn die Stadt ist strategisch wichtig. Eine Schnellstraße ins Nachbarland Saudi-Arabien führt durch Marib. Außerdem gibt es in der Umgebung Gasvorkommen.
War Marib bis Anfang des Jahres noch ein Ruhepol im jemenitischen Bürgerkrieg und daher als Fluchtort beliebt, ist die Stadt inzwischen der am heftigsten umkämpfte Ort in diesem Krieg. Die Huthi-Rebellen versuchen derzeit, zunächst das Umland von Marib zu erobern. Die Stadt selbst kontrollieren noch die jemenitischen Regierungstruppen, die von Saudi-Arabien unterstützt werden. Bisher ist es vor allem die saudische Luftwaffe, die die Rebellen mit ihrem Bombardement noch abhält, sich bis an den Stadtrand vorzukämpfen.
Allein seit Beginn dieser Woche hat Saudi-Arabien nach eigenen Angaben fast fünfzig Angriffe gegen Huthi-Stellungen geflogen. Während die Huthi-Propaganda behauptet, die Eroberung Maribs sei eine Frage der Zeit, schwören die Regierungstruppen und die Saudis, den Ort bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen.
45.000 Vertriebene seit September
Mit der Verschärfung der Kämpfe haben sich in den letzten Wochen noch mehr Menschen in Richtung Marib aufgemacht, um sich vor der vorrückenden Front in Sicherheit zu bringen. „Seit September sind 45.000 zusätzliche Vertriebene in der Stadt angekommen“, schildert Christa Rottensteiner im Gespräch mit der taz die dramatische Lage am Telefon.
Sie leitet von der jemenitischen Küstenstadt Aden aus die Internationale Organisation für Migration (IOM) im Jemen, die größte humanitäre Organisation, die in Marib aktiv ist. „Die Zahl der Menschen, die jeden Tag in den 130 Lagern der Vertriebenen rund um die Stadt ankommen, ist um ein Zehnfaches gestiegen“, sagt Rottensteiner, die vor wenigen Tagen von Marib nach Aden zurückgekehrt ist.
Für die humanitären Hilfsorganisationen im Jemen ist das eine riesige Herausforderung. „Wir bringen Nahrungsmittel, wir verteilen Zelte und Decken. Wir kümmern uns um die medizinische Versorgung“, sagt die IOM-Leiterin, „aber wir können nur einem Bruchteil derer helfen, denen es am schlimmsten geht. Unser großes Problem ist, dass wir nicht genug Geld und Personal haben.“ Ein weiteres Problem sei der Zugang zu den Lagern. „Die Menschen, die uns brauchen, leben oft zu nahe an der Front, und die Lager ändern sich auch ständig. Ständig tauchen neue Zelte auf und es ist sehr schwierig, damit Schritt zu halten“, beschreibt Rottensteiner die Lage.
Es mangelt an Decken
Doch es sind nicht nur die Zahlen und logistische Probleme, die Rottensteiner zu schaffen machen, sondern auch die Einzelschicksale. „Was mich persönlich getroffen hat, waren viele Gespräche mit Frauen, zum Beispiel mit einer jungen Witwe, die nun schon zum fünften Mal mit einem Minimum an Habseligkeiten fliehen musste“, erzählt Rottensteiner. „Ihre vier Kinder können nicht in die Schule gehen und sie leben in einem Zelt mit vierzig Leuten, ohne Wasserversorgung.“ Nun komme zudem der Winter, und es mangele an Decken.
Nicht nur die Wasserversorgung in den Lagern, die in der Wüste um die Stadt entstanden sind, ist ein logistischer Albtraum. Zehn von hundert Kindern in Marib sind unterernährt. Das Problem sei nicht, dass es keine Nahrungsmittel gäbe, erklärt die IOM-Chefin. „Das Problem ist die Inflation. Seit Beginn des Jahres haben sich die Preise verdoppelt. Auch wenn es noch Essen gibt, können sich das die meisten Menschen nicht mehr leisten.“
In Europa könne man sich die Lage im Jemen wahrscheinlich kaum vorstellen, glaubt die Österreicherin Rottensteiner. Aber schon die Zahlen zeigten, wie schrecklich dieser Krieg ist und wie dramatisch die Lage: „Zwanzig Millionen Menschen im Jemen sind abhängig von humanitärer Hilfe, das sind zwei Drittel der Bevölkerung. Viele Millionen Menschen sind intern vertrieben“, fasst Rottensteiner zusammen.
Die Hoffnungslosigkeit und Perspektivlosigkeit in den Lagern rund um Marib seien besonders schwer mit anzusehen. Alle wüssten: Solange der Krieg weitergeht, gibt es keinerlei positive Aussichten. Für Rottensteiner gibt es dabei ein persönliches Schreckensdrehbuch: „Wenn der Krieg noch näher an die Stadt rückt, könnten wir wirklich eine Katastrophe erleben, wenn dann eine halbe Million oder ganze Million Menschen sich auf die Flucht macht“, sagt sie. „Das wäre für uns humanitäre Organisationen das schlimmste Szenario.“
Vertreibungen auch bei Hudaida
Doch nicht nur in Marib, auch im Westen des Landes werden Menschen tausendfach in die Flucht geschlagen. Kämpfe zwischen den Regierungstruppen und den Huthi-Rebellen hätten im vergangenen Monat mehr als 25.000 Menschen aus der Umgebung der Hafenstadt Hudaida vertrieben. Wie die Vereinten Nationen in der Nacht auf Mittwoch mitteilten, flohen etwa drei Fünftel der Zivilisten in die von der Regierung gehaltenen Gebiete, der Rest zu den Rebellen.
Nach Angaben des Amts für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der UN (OCHA) flammten die Kämpfe in Hudaida auf, als die Rebellen in Gebiete vordrangen, die von den Regierungstruppen verlassen worden waren. Daraufhin starteten die Regierungstruppen einen Gegenangriff. Rund 70 Prozent der Importe des Landes, darunter auch Hilfslieferungen, werden in Hudaida abgewickelt. Die jüngsten Kämpfe in Hudaida waren die schwersten seit einem von der UN vermittelten Waffenstillstand im Dezember 2018, der allerdings nie gänzlich umgesetzt wurde.
Der Krieg im Jemen war 2014 ausgebrochen, als die Huthis weite Teile des Landes, darunter die Hauptstadt, überrannten. Seit 2015 versucht eine von Saudi-Arabien angeführte Militärkoalition, die Huthis mit Luftangriffen zurückzudrängen und die Regierung wiederherzustellen. Beobachter werfen beiden Seiten schwere Verstöße gegen die Menschenrechte vor.
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