Krieg, Normalität etc.: Unheroische Gesten
■ Das Ringen des Bundeskanzlers um Form und das Ausbleiben einer öffenlichen Erregung. Anmerkungen zur Wahrnehmung des Krieges
Ein Hauch von Neujahrsansprache ging durch das Fernsehstudio, in dem sich Bundeskanzler Schröder vor einer rustikal simulierten Bücherwand zum historischen Sprechen über den Krieg ins Bild setzte. Im Vergleich zur feierlichen Ansprache vor knapp vier Monaten war das Regal reichlich angefüllt. Eine fein ausgearbeitete Holzattrappe simulierte den Rückhalt des Klassikerkanons. Irgendwie Weimar.
Der Normalitätswille des Kanzlers, der zuletzt wiederholt verdächtigt wurde, einer allzu saloppen Geschichtsvergessenheit oder doch Geschichtsmüdigkeit zu entspringen, war in dieser Inszenierung sichtlich um Form bemüht, als käme es darauf an, Entschlossenheit in unheroischer Haltung zu demonstrieren. „An dem Einsatz der Nato“, so Schröder, „sind auch Soldaten der Bundeswehr beteiligt.“ Die Weitergabe von Information in denotativer Schlichtheit ist die erste Kanzlerpflicht.
Schröders ambivalentes Ringen um einen undramatischen Auftritt paßt in das Bild, das die Öffentlichkeit angesichts der Bombenangriffe auf Belgrad gibt. Der Beklommenheit der verantwortlichen Politiker steht eine weitgehende Ratlosigkeit gegenüber. Gewiß, es gibt die rigoristischen Reflexe des „Nie wieder!“ Der Präsident der Berliner Akademie der Künste, der ungarische Schriftsteller György Konrád, hat den Nato-Einsatz kritisiert. Eine Bombardierung werde keine Lösung bringen, und mit Gewalt, so Konrád, lassen sich keine Demokratien schaffen. Er sehe die Gefahr, daß sich die Situation ähnlich wie in Vietnam entwickle.
Der Schriftsteller und ehemalige Alterspräsident des Bundestages, Stefan Heym, unterbrach eine Lesung in pathetischer Nachdenklichkeit mit dem Satz „Wir leben in ernsten Zeiten“ und: „Ich hatte gehofft, daß ich nie wieder einen Krieg erleben muß.“ Was aus den Mündern der Schreiber und Denker die Agenturen erreicht, ist erstaunlich straßenkompatibel.
Im Feuilleton wird unterdessen das plötzliche Sterben der Friedensbewegung und des Pazifismus angezeigt. Zehn Jahre habe es gebraucht, schreibt Stephan Speicher in der Berliner Zeitung, um aus den pazifistischen Deutschen eine kriegsbereite Nation zu machen. „Wir sind wieder wer, auch im Krieg.“
Daß ein neudeutsches militaristisches Selbstbewußtsein an die Stelle gutmeinender Friedensgesinnung getreten ist, darf allerdings bestritten werden. Was sich an den öffentlichen Reaktionen bislang ablesen läßt, ist angesichts der Nato-Bomben auf Belgrad das Fehlen einer paranoiden Verdächtigungsrhetorik, die während des Golfkriegs die Formel „Kein Blut für Öl“ erzeugt hatte. Es ist alles etwas komplizierter geworden. Noch sind die Stellungen im Meinungskampf nicht besetzt. Das Ausbleiben einer weithin vernehmbaren Erregung läßt sich vielleicht auch als Chance zu einem differenzierten Diskurs begreifen, der die Erfahrung früherer Bewegungsemphasen in Politik verwandelt. Harry Nutt
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