: Kreisch!
Papageien sind in Deutschland zur einheimischen Art geworden. Aber das exotische Federvieh hat einen miesen Ruf. Manch ein Exemplar landet da schon mal in der Tiefkühltruhe eines vogelgeplagten Rentners
von HEIDE PLATEN
Das Männchen sitzt auf einem Platanenast, trippelt, streckt erst ein Beinchen ab, dann das andere, trippelt wieder und fällt dabei vor Aufregung fast vom Baum. Das Weibchen hält den Kopf schräg und guckt skeptisch. Er beknabbert ihren Kopf. Das Hochzeitsgeschenk wird endlich angenommen und wechselt von seinem in ihren leuchtend roten Schnabel.
Das war im Winter. Das Weibchen bestimmte nach der Partnerwahl auch die Auswahl des Nistplatzes. Die Ergebnisse des Hochzeitstanzes stecken erst in den ersten Maiwochen ihre kahlen Köpfchen aus den Nestern. Im März haben die Weibchen zwei bis sechs Eier gelegt, die sie allein bebrüten. Das Männchen schafft während dieser Zeit das Futter für seine Partnerin heran. Die Jungen fliegen bis zum Juni aus. Die grünen Vögel sind in den Blätterkronen der hohen Platanen des Biebricher Schlossparks in Wiesbaden im Frühjahr nur noch schwer zu erkennen, dafür umso besser zu hören. Papageien kreischen.
Frei lebende Papageienkolonien sind in der Bundesrepublik keine Seltenheit mehr. Der Vogelfreund und Fotograf Dieter Zingel hat ihre Entstehung in Wiesbaden zusammen mit seiner Frau Hilla seit 1974 beobachtet. Zu Hause sind die grell grünen Halsbandsittiche eigentlich in vier Unterarten in Afrika und Asien.
Einem ersten Bericht über ein Pärchen, das in der Nähe eines Wiesbadener Schwimmbades brütete, hatte Zingel nicht getraut und vermutet, es handele sich vielleicht um eine Verwechslung mit Grünspechten. Im Winter sah er die Tiere dann selbst herumfliegen und entdeckte sie im Januar im Schlosspark wieder. Er identifizierte sie als die Unterart Psittacula krameri manillensis. Eine Überlebenschance gab er den Tieren, die er bereits von seinen Besuchen in Ceylon gut kannte, damals nicht. Im März brüteten die beiden dann sicher in zwölf Meter Höhe in einer alten Spechthöhle. Sie waren nicht beringt.
Dies, so Zingel, ließ darauf schließen, dass schon die beiden Neusiedler im Park aus einer Brut in Freiheit stammten. Später entdeckte er einige wenige beringte Vögel, die entweder schon zu der ersten Population beigetragen hatten oder aber später aus ihren Käfigen entwischt sein konnten.
Erst nach seiner Entdeckung erfuhr Zingel, dass die Zuwanderer möglicherweise aus einer bereits zu Anfang der Siebzigerjahre bestehenden kleinen Kolonie in Köln stammen könnten und vermutlich den Rhein entlang eingewandert waren. Kurzfristig gab es auch eine Dependance im benachbarten Mainz, die sich aber nicht halten konnte.
Entwischte Halsbandsittiche hatten sich bereits in den Dreißigerjahren in England vermehrt. Kolonien sind heute außerdem aus den Niederlanden, aus Belgien, dem westfälischen Beverungen und aus Hamburg bekannt. Die Wiesbadener Kolonie hat sich seit 1975 langsam, aber stetig auf inzwischen mehrere hundert Tiere vergrößert. Zingel schätzt den Bestand auf rund fünfhundert Vögel.
Dass die Tiere in Mitteleuropa gut über den Winter kommen, hat zuerst auch Experten verblüfft. Allerdings ist die Art auch in den südindischen Bergen Frost gewohnt. Zingel listete nicht nur die Bestände auf, sondern beobachtete das Verhalten der Tiere 25 Jahre lang. Sie sind, stellte er fest, relativ standorttreu und streifen in Familienverbänden durch die nähere Umgebung, ziehen in Schwärmen, meist entlang den Flussauen, durch Kleingärten und Parkanlagen.
Halsbandsittiche sind vorwiegend Vegetarier. Sie fressen im Frühjahr Knospen, Triebe, Blätter, knabbern an Blüten, finden im Sommer und Herbst Früchte und Samen. Mit ihrer Nahrung gehen sie verschwenderisch und geschmäcklerisch um, lassen die Hälfte einfach fallen. Hin und wieder fressen sie Insekten und Schnecken. Im Winter machen sie sich auch über das Nahrungsangebot in Futterhäuschen und über Meisenknödel her.
Die einheimischen Raubvögel, die bisher schon manchen entfleuchten Wellensittich verspeisten, haben die neue Nahrungsquelle entdeckt und angefangen, sich auf die bunte Beute einzustellen. Habichte, Sperber, Milane, Wanderfalken, Waldkäuze fangen vor allem Jungvögel und Einzelexemplare. Erwachsene Papageien reagieren auf diese Feinde ähnlich wie Rabenvögel – mit wütenden Gemeinschaftsattacken und Verfolgungsjagden.
Papageien sind Höhlenbrüter und nutzen alte Specht- und natürliche Baumhöhlen als Nistplätze. Dass sie diese einheimischen Vogelarten nicht abspenstig machen, zeigte die Langzeitbeobachtung deutlich. Sie lockten im Gegenteil andere Vogelarten an. Stare, Dohlen, sogar Bienen nutzten die Gelegenheit und verdrängten die Halsbandsittiche aus den wiederbelebten und neu angelegten Höhlen. Die Sittiche kämpfen untereinander zwar heftig um ihren Brutplatz, geben aber bei anderen Arten sehr schnell auf. Zingel beobachtete, dass sie sogar einer kleinen Blaumeise Platz machten.
Die Schlafplätze der Sittiche außerhalb der Brutzeit werden geheim gehalten. Denn schnell sind ihnen Menschen zum Feind geworden. Im Winter 1989 wurden sie in einer nicht genehmigten Aktion von Jägern abgeschossen, die die einheimische Fauna bedroht wähnten. Zingel: „Leider werden derart wahnwitzige Behauptungen von manchen Zeitgenossen nur allzu gern aufgenommen und weiterverbreitet.“ Seither wechseln die Vögel, die den ersten Platz vierzehn Jahre lang ungestört genutzt haben, ihre Schlafbäume in immer kürzeren Abständen.
Auch in ihrer indischen Heimat gelten die Vögel als Plage, weil sie in Riesenschwärmen mit tausenden von Tieren über Getreide- und Reisfelder und über Dreschplätze herfallen. Diese Gefahr, so Zingel, bestehe in Deutschland nicht. Die Vögel nehmen bisher weder den Menschen noch anderen Tieren die Nahrung weg, verdrängen einheimische Vögel nicht von ihren Brutplätzen und sind auch noch nie in den umliegenden Weinbergen gesichtet worden. Wiesbadens Parks und Grünanlagen sind für sie eine botanische Insel, auf der sie bleiben müssen, weil die deutschen Wälder in ihrer monokulturellen Struktur ihnen zu wenig Nahrung bieten.
In der Bundesrepublik haben die selbst ernannten Naturschützer mit ihrer Abschussaktion gegen das Bundesnaturschutzgesetz verstoßen. Danach gelten die Halsbandsittiche inzwischen als einheimische Art, da sie sich „in freier Natur und ohne menschliche Hilfe“ über mehrere Generationen hinweg erhalten haben (§ 20a Bundesnaturschutzgesetz).
Unbehelligt können Halsbandsittiche bis zu sechzig Jahre alt werden. Damit sterben sie für Papageien relativ jung. Bernhard Grzimek berichtete von einem Nasenkakadu, der 1958 im Londoner Zoo im gesegneten Alter von 106 Jahren starb. Ein Gelbhaubenkakadu soll sogar 120 Jahre alt geworden sein. Papageien lebten, berichtete der US-amerikanische Wissenschaftler Thomas Stidham 1998 in der Fachzeitschrift Nature, schon in der Kreidezeit. Er entdeckte im Bundesstaat Wyoming den siebzig Millionen Jahre alten Unterkiefer eines Loris. Bisher hatte es aus dieser Epoche nur Funde von Wasservögeln gegeben. Der Lorifund sei der erste Hinweis darauf, dass zu Zeiten der letzten Saurier auch schon Landvögel durch die Farn- und Sumpfzypressenwälder flogen.
In Persien wurden Papageien bereits im 5. Jahrhundert vor Christus dargestellt, gelangten über Alexandria aus Indien nach Griechenland und Rom, zierten Papstpaläste und mittelalterliche Fürstenhöfe. Die Einfuhr der meisten Arten ist heutzutage durch das Artenschutzabkommen verboten, nachgezüchtete Tiere benötigen die entsprechenden Papiere. Einzel- und Käfighaltung der geselligen Vögel ist als Tierquälerei erkannt. Dennoch erzielen Wildfänge seltener Arten auf dem schwarzen Markt noch immer Höchstpreise.
Frei lebende Papageien in Parks, von den einen als Bereicherung empfunden, sind anderen ein Dorn im Auge. Alfred Brehm nannte sie verächtlich „gefiederte Affen“. Lexika zum Ende des 19. Jahrhunderts beschreiben sie als „listig, gefräßig und zudringlich“, „arge Schreier und Nager“. In Bad Cannstatt wurde im Sommer 1998 ein 69-jähriger Rentner dingfest gemacht, der versucht hatte, mit seinem Luftgewehr eine in der Nähe des Tierparks Wilhelma lebende Doppelgelbkopfamazonen-Kolonie zu dezimieren. Ein angeschossener Vogel konnte gerettet werden, einen zweiten fand man in der Tiefkühltruhe des Senioren. Die Tiere seien, sagte er aus tiefster Überzeugung, „Faunenverfälscher“. Er wurde angezeigt. Im Gegenzug machte er die Leitung der Wilhelma verantwortlich für die Kolonie und erstattete seinerseits Anzeige, weil er die lärmenden Papageien als „Plage“ empfinde.
Die Wilhelma aber kann gar nichts für die Vögel. In Stuttgart ist die erste frei fliegende Amazone nach Angaben des Naturschutzbundes (Nabu) bereits 1984 gesichtet worden. Einen Partner unbekannter Herkunft fand sie zwei Jahre später. Die Tiere vermehrten sich, fliegen seit Jahren bis in die Stuttgarter Innenstadt und werden seit 1996 manchmal von Halsband- und Alexandersittichen begleitet. Die Amazonen, die in ihrer mittelamerikanischen Heimat bedroht sind, haben sich auf den deutschen Winter eingestellt, fressen sich eine Speckschicht an und übernachten geschützt in Häusernischen und über Luftschächten.
In Wiesbaden verschwanden 1994 rund fünfzig Prozent der Halsbandsittiche aus bisher ungeklärten Gründen. Dieter Zingel vermutet die Abwanderung eines Teils der Kolonie. Mittlerweile sind auch in anderen Stadtteilen einige Brutpaare gesichtet worden. Im Schlosspark haben sich größere Verwandte, die Alexandersittiche (Psittacula eupatria), angesiedelt. Dazu kommen weitere Arten im Stadtgebiet: Gelbscheitel und Rotbugamazonen, Guayaquilsittiche, Mohrenkopf- und Graupapageien, Wellen- und Nymphensittiche. Östlich von Wiesbaden bauen südamerikanische Mönchssittiche ihre in der Papageienfamilie einzigartigen Gemeinschaftsnester.
Ausgebüxte Papageien vermehren sich auch im Osten Spaniens. Dort sind sie allerdings nicht nur Opfer von Raubvögeln und schießwütigen Rentnern, sondern werden wegen des Lärms vertrieben oder von professionellen Nesträubern dezimiert. In machen Gegenden haben sie sich in der Nähe von Müllkippen angesiedelt. Ganz anders die Wiesbadener Vögel. Sie locken jedes Frühjahr mit Ferngläsern bewaffnete Vogelfreunde in den Schlosspark. Papageienfans füttern sie, obwohl die gelehrigen Opportunisten das eigentlich gar nicht nötig hätten.
Literatur: Ornithologische Mitteilungen, Nr. 6/97. Gefiederte Welt, Nr. 117–118/93. Grzimeks Tierleben, München, 1978HEIDE PLATEN, 55, ist taz-Korrespondentin und lebt in Frankfurt am Main
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen