Krebsbekämpfung: Dynamit aus dem Beifuß
Als Zusatz zu herkömmlichen Therapien soll der Wirkstoff aus dem Einjährigen Beifuß dazu beitragen, schnell wachsende Krebszellen innerlich zu sprengen
"Das ist ein Wirkstoff und kein Hokuspokus-Glaube." Thomas Efferth vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg kennt sich aus mit den Vorurteilen gegen die Naturmedizin. Doch der 47-jährige Professor kann auf die Erfahrung einer 5.000 Jahre alten Behandlungskultur zurückgreifen: "Bei etwa 250.000 erforschten Pflanzen hat die Traditionelle Chinesische Medizin die am wenigsten wirksamen bereits aussortiert."
Seit zwölf Jahren widmet sich Efferth, Molekularbiologe, akribisch den Arzneipflanzen der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM). Mit seinem siebenköpfigen Team legt er im Labor Zelllinien an und testete bisher rund zwei Dutzend isolierte pflanzliche Wirkstoffe, während seine Partner am National Cancer Institute in Bethesda, im US-Bundesstaat Maryland, menschliche Tumore an Mäusen züchten und die Wirkung pflanzlicher Moleküle am lebenden Tier beobachten.
Eines sei bei beiden Verfahren eindeutig, so Efferth: "Artesunate, eine Substanz aus dem Einjährigen Beifuß (lat. Artemisia annua, nicht zu verwechseln mit dem Gewürz Artemisia vulgaris), wirkt zerstörerisch auf schnell wachsende Krebszellen."
Laut Efferth lässt sich das bis ins Detail logisch nachvollziehen, wenn man die Molekülstruktur von Artesunate betrachtet: Sie enthält komplizierte Sauerstoffbrücken, "Endoperoxidbrücken". Diese sind instabil und brechen auf, wenn die Moleküle an eine Zelle andocken.
Die Reaktionen, die sich dann abspielen, sind erwünscht, weil heilsam. Erstens werden extrem aggressive Sauerstoffteilchen frei, die das attackieren, was sie vorfinden: die Krebszellen. Zweitens bleiben beim Restmolekül von Artesunate bindungsbereite Strukturen übrig; sie suchen sich Eiweiße als neue Partner. Dabei entstehen so genannte Proteinadukte, und die zersetzen den Tumor von innen.
Artesunate wirkt somit wie Dynamit in den kranken Zellen. Die chinesische Medizin nutzte diesen Mechanismus, ohne ihn zu kennen, seit Jahrtausenden. Zwar nicht gegen Krebs - den gibt es für sie nicht -, aber gegen Fieber und Malaria. Deren Erreger hausen zeitweise im Blutfarbstoff, dem Hämoglobin. Auch hier wirkt Artesunate.
Dass eine Pflanze über eine so raffiniert wirksame Substanz verfügt, ist in Efferths Weltbild nur natürlich: "Ein Ergebnis des ständigen Wettrüstens zwischen Pflanzen und Pflanzenfressern."
Denn tatsächlich müssen Pflanzen, um langfristig als Art erhalten zu bleiben, sich nicht nur gegen Bakterien, Pilze und Viren wappnen. Sie müssen auch Gifte entwickeln, die Fressfeinden suggerieren, sie seien ungenießbar. Die Nebenwirkungen, die Artesunate-Medikamente haben, sind daher jene, die in der freien Natur die Pflanzenfresser davon abhalten sollen, vom Einjährigen Beifuß zu naschen: Kopfweh, Schwäche und Benommenheit.
Im Vergleich zu den Nebenwirkungen durch Chemotherapie - von vorübergehendem Haarausfall über bleibende Sterilität bis zur lebensgefährlichen Knochenmarkschädigung - nimmt sich das Pflanzengift gut verträglich aus. Dennoch wird es meist nur als Zusatz verwendet. Efferth: "Wir wollen niemandem die Chancen der Schulmedizin nehmen."
Hier schwingt mit, dass Krebs eine sehr gefährliche Krankheit ist. Zudem teilen sich die Industrien den Markt der Krebsforschung, und Außenseiter von der Pflanzenfront sind unliebsame Konkurrenz. Absprachen, nicht der Wille, Menschen zu helfen, prägen den Markt. So stellt zwar ein bekannter Pharmariese (Sanofi) das Artesunate-Mittel für die Malariatherapie her. Da der Konzern aber nicht in den Markt für Krebsmedikamente einsteigen will, verweigert er Geld für Studien.
Efferth fand dennoch eine Lösung: das mittelständische belgische Unternehmen Dafra Pharma produziert ebenfalls gegen Malaria zugelassene Medikamente aus "Qinhao" (so der chinesische Name für Artemisia annua) - und ist für Studien bereit. Eine solche läuft nun in der Heidelberger Frauenklinik mit Brustkrebspatientinnen. Pilotbeispiele gibt es außerdem: Gegen Schwarzen Hautkrebs im Auge, gegen den keine herkömmliche Therapie hilft, ist Artesunate sogar als Solist erfolgreich. Bei Leukämien, Darm- und Gebärmutterkrebs sollen die Tabletten als Zusatz wirken, auch bei Prostata- und Bauchspeicheldrüsenkrebs wurde der Wirkstoff bereits eingesetzt.
Flächendeckende Studien fehlen zwar noch. Aber wenn ein Krebspatient es will, kann laut Efferth jeder Arzt, jede Klinik ihn zeitgleich zur schulmedizinischen Therapie mit dem Pflanzenmittel behandeln. Artesunate sollte aber unbedingt in Kombination mit einem Eisenpräparat verabreicht werden. Efferth: "In Anwesenheit von Eisen-Ionen bricht die Endoperoxidbrücke besonders schnell auf." Das Eisen lagert sich in schnell wachsenden Zellen an, markiert solchermaßen das Zellwachstum und macht die wuchernden Zellen so zum Zielpunkt für die Substanz.
Wirksam ist das pflanzliche Surrogat daher auch nur bei den schnell wachsenden Krebsen. Gegen die vom Skandalmediziner Julius Hackethal einst "Haustierkrebs" genannten, über viele Jahre hinweg sich ausbreitenden Geschwüre sind die Waffen des Beifußes stumpf. Abgeraten wird auch von niedrigen Dosierungen, etwa in Tee: Dann kann eine Resistenz gegen Artesunate entstehen. Schließlich scheint das Naturgift Nikotin die Wirkung des Naturgifts Artesunate zu beeinträchtigen. Und es gibt, wie bei jeder Tumortherapie, einzelne Fälle, in denen das Medikament nicht anschlägt.
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