Krankenschwester in Flüchtlingslager: 25 Jahre Flucht nach Deutschland

Angelika Nolte arbeitet seit 25 Jahren im Lager Friedland. Sie berichtet von Flashbacks, Kulturschocks und Gesichtstätowierungen.

Ein Mädchen schaukelt im Innenhof zwischen Baracken im Lager Friedland

Das ehemalige Grenzdurchgangslager Friedland ist inzwischen Erstunterkunft. Mittlerweile gibt es dort sogar ein Museum zur Geschichte des Lagers. Foto: dpa

Wenn die Leute einen so großen seelischen Schmerz haben wie die Menschen, die gerade aus Syrien zu uns kommen, fallen sie manchmal um und liegen da wie tot. Körperlich ist alles normal, Puls und Blutdruck sind da, aber die Augen sind nach oben verdreht.

Neulich erst hatten wir eine junge Frau aus dem Nahen Osten auf Station. Sie lag im Bett, ich war gerade bei ihr gewesen. Plötzlich rief ihre Familie über den Notrufknopf. Von einer Minute auf die andere ging es ihr schlecht. Sie muss auf ihrem Handy ein Bild angesehen haben und bekam so einen Zustand, einen Flashback.

Zu uns nach Friedland wurden auch Kinder mit verbrannter Haut von einem Giftgasanschlag in Syrien gebracht. Sie kamen 2014 als Kontingentflüchtlinge aus dem Libanon. Ihre Haut ist schon vernarbt, wenn sie zu uns kommen. Schlimmer sind die seelischen Verletzungen, so was habe ich früher nicht erlebt.

Ich arbeite seit Juni 1991 im Grenzdurchgangslager Friedland auf der Krankenstation. Es existiert seit 1945, mehr als vier Millionen Menschen erreichten über Friedland die BRD.

Russlanddeutsche schnackten Platt

Erst kamen Kriegsgefangene, die aus Russland in die Westsektoren heimkehrten, und vertriebene Deutsche aus dem Osten, später Aussiedler aus Polen. Als ich nach der Wende dort anfing, waren Russlanddeutsche, zeitweise auch jüdische Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion hier.

Ich komme aus einem Nachbardorf in Thüringen. Früher habe ich Nachtwache im Kreiskrankenhaus gehalten. In Friedland war alles neu für mich. Mit Ausländern hatte ich vorher nichts zu tun. Es gab kaum welche in der DDR. Selbst das Telefonieren war ich nicht gewöhnt. Dafür war der Verdienst im Westen viel besser.

Da stiegen zwei Omas mit tätowierten Gesichtern, Turban und Pluderhosen aus dem Auto. Sie lagen ein paar Tage bei uns, wir kommunizierten mit Händen und Füßen und lächelten uns an

Auf unserer Station können wir dreizehn Leute aufnehmen. Bei uns die, die aus dem Krankenhaus zurückkehren und im Lager nicht allein zurechtkommen: Alte, Schwangere oder Frauen mit Neugeborenen. Viele bleiben ein paar Tage, manche Monate. Wir sind acht Schwestern und der Chef. Nicht alle arbeiten Vollzeit. Bis zum vergangenen Jahr arbeitete pro Schicht eine Schwester.

Als ich 1991 zur Probe arbeitete, wusste ich nach drei Tagen: Das ist mein Ding! Ich kam gleich mit den Menschen zurecht. Besonders mochte ich die alten Frauen. Viele erzählten mir von ihrer Verschleppung nach Sibirien und Kasachstan.

Wir sprachen Plattdeutsch, die Russlanddeutschen sprechen ja so eine alte Sprache. Wenn sie Verstopfung hatten, sagten sie: „Schwester, ich kann nicht auf den Hof gehen!“ Mit der Zeit lernte ich auch gut Russisch. Zum Abschied segneten mich die Frauen oft, das hat mir Kraft gegeben. Ich kannte meine Patienten.

Learning by doing

Das änderte sich schlagartig, als Friedland 2011 Erstaufnahmelager für Asylbewerber in Niedersachsen wurde. Das sicherte unsere Arbeitsplätze, denn es wanderten immer weniger Russlanddeutsche ein.

Die Asylbewerber kamen von überall. Als die ersten eintrafen, hatte ich einen Kulturschock. Da stiegen zwei Omas mit tätowierten Gesichtern, Turban und Pluderhosen aus dem Auto. Sie lagen ein paar Tage bei uns, wir kommunizierten mit Händen und Füßen und lächelten uns an. Sie waren sehr freundlich, und so brach das Eis.

Vorsichtig zeigte ich ihnen, wie Klo und Dusche funktionierten. In vielen Ländern gibt es ja nur Stehtoiletten. Den Russlanddeutschen hatten wir erklären müssen, das Papier ins Klo und nicht in den Eimer zu werfen. Verwandte holten die zwei Omas schließlich ab. Aus welchem Land sie kamen, haben wir nie erfahren. Inzwischen erhalten die Leute im Lager Karten, auf denen Name, Herkunftsland, Sprache, Alter stehen. Das ist sehr hilfreich.

Damals gab es keine Vorbereitung. Wir wussten nichts über die Patienten. Ich musste lernen, wo Krieg ist, welche Länder und Konfliktregionen es gibt, was da für Volksgruppen leben, welche Sprachen sie sprechen. Wir Schwestern versuchen es erst auf Englisch. Aber das kann ich nicht so gut. Das Wichtigste habe ich von meinen Kolleginnen abgehört. Inzwischen kann ich auch fünf Wörter Arabisch.

„Schukran“ höre ich oft, das heißt „Danke“. Aber es gibt ja noch Kurmandschi und so viele andere Sprachen. Etwa dreimal die Woche müssen wir Dolmetscher aus dem Lager holen. Schwergefallen ist mir auch das Schreiben der Namen. Viele haben zwei Vornamen und zwei Nachnamen, was ist was? Du lieber Gott! Es hat Jahre gedauert, bis ich mich auskannte. Aber so habe ich viele Ängste verloren. Es war Learning by doing.

Theater um kleine Sachen

Die meisten Patienten erzählen wenig über ihre Geschichten und über die Gründe ihrer Flucht. Ich begreife das eher durch die Medien. Es gibt Sprachbarrieren, und viele sprechen nicht über die schlimmen Dinge, die sie auf der Reise oder vorher erlebt haben. Vermutlich haben manche auch Angst, etwas Falsches zu sagen, bevor über ihren Aufenthaltsstatus entschieden wird.

Die Leute stehen unter Druck. Vor ungefähr vier Jahren kam ein Mann aus der Türkei zu uns. Er hatte gerade die Anhörung im Asylverfahren hinter sich und war völlig verschwitzt. Ich sagte ihm, er möge sich duschen, und gab ihm einen frischen Schlafanzug. In der Schicht nach mir hörte meine Kollegin aus der Toilette plötzlich Schläge gegen die Heizung. Der Mann hatte sich aufgehängt, mit dem Schlafanzug! Die Kollegin konnte ihn retten.

Körperlich ist die Arbeit nicht so anstrengend. Eher psychisch, weil man an vieles denken muss: Wer erhält wann welche Medikamente? Wer braucht einen Facharzt, wer den Sozialdienst? Ständig klingelt das Telefon. Wochentags kommt ein Arzt zur Sprechstunde. Die beginnt um 14 Uhr und dauert manchmal bis zur Nachtschicht um 20 Uhr. Durchschnittlich haben wir 60 bis 70 Patienten pro Nachmittag. Früher, also vor 2011, waren es 40, höchstens! Außerhalb der Sprechzeit müssen wir entscheiden: Muss der jetzt ins Krankenhaus oder hat es Zeit, bis der Doktor kommt?

Manche Patienten machen viel Theater um kleine Sachen. Aber man muss alles ernst nehmen. Ich habe gelernt, Leute genau zu beobachten: Wie kommen die zur Tür rein? Halten sie sich die Seite?

Vergangenen Sommer, als die Zahl der Flüchtlinge am höchsten war, sind uns in jeder Schicht Leute mit Flashbacks abgeklappt. Es kamen immer mehr. Ich war jeden Tag völlig erledigt. Ich habe nur das Nötigste gemacht und die meisten abgewimmelt. Anders ging es nicht. Wir waren allein in der Schicht. Schließlich bekam ich starke Rückenschmerzen und fiel zwei Monate aus. Ende September kehrte ich zurück. 3.000 Menschen waren da, das Lager hat Plätze für halb so viele.

Zur Zeit der Russlanddeutschen ging es geordnet zu. Es war meist klar, wann wie viele Personen eintrafen. Das ist seit Langem vorbei, die Leute kamen nicht mehr nach Plan. Es war völlig verrückt: Überall lagen Matratzen, in der Cafeteria, in der Sporthalle. Mitarbeiter auf dem Weg ins Büro mussten über all die Menschen drübersteigen.

Die erste Stunde ist Horror

Wenn mich im Lager jemand zu einem Notfall rief, wusste ich gar nicht, wohin! Ich musste mich neu orientieren. Dafür war in meiner Abwesenheit endlich Personal aufgestockt worden. Seitdem sind wir zu zweit in der Früh- und Spätschicht. Ich habe auf eine halbe Stelle reduziert. Jetzt macht die Arbeit wieder Spaß! Wenn ich alle Patienten gut versorgt oder einer Mutter in Ruhe erklärt habe, was sie mit ihrem fiebrigen Kind machen soll, dann bin ich froh.

Gut ist es, wenn ganze Familien kommen, denn die kümmern sich umeinander. Wir hatten mal drei Brüder aus Afghanistan, die über die Berge gekommen waren und erfrorene Füße hatten. Die hatten Schmerzen! Ihre Schwestern und die Mutter kamen immer zur Station und massierten den Brüdern die Füße. Es hat lange gedauert, bis sie zurechtkamen. Das erinnert mich an meinen Vater, der hatte erfrorene Hände auf der Flucht aus Königsberg.

Die erste Stunde der Sprechzeit ist manchmal der Horror. In den ersten Jahren nach 2011 kamen meist junge Männer. Wenn die vor mir standen, laut lamentierten und ausfallend wurden, habe ich am ganzen Körper gezittert. Ich dachte, die könnten mir was tun. In einem Antiaggressionstraining habe ich gelernt, dass hinter diesem Auftreten nur Angst steckt.

Ich muss mich abgrenzen und sagen: „Nein! So nicht!“ Jetzt gehe ich viel besser damit um. Notfalls schließe ich die Tür und hole Hilfe. Anfangs, als die Asylbewerber kamen, kam das öfter vor. Seit drei Jahren haben wir einen Alarmknopf. Wenn ich den drücke, kommt gleich Wachpersonal. Eventuell hole ich einen Dolmetscher und kläre, worum es geht. Aber inzwischen kommt das nur einmal in 14 Tagen vor. Vielleicht ist es auch ruhiger geworden, weil die Polizei im Lager präsenter ist.

Außerdem ging in den letzten sechs Wochen der Zustrom zurück. Es ist friedlich im Lager, die nicht belegten Häuser werden gründlich sauber gemacht und für die Nächsten hergerichtet. Aus der Türkei fliegen die ersten Resettlement-Flüchtlinge ein. Ich finde es gut, wenn Leute aus Kriegsgebieten wie Syrien geordnet hierhergeholt werden. Und mir liegt sehr daran, dass den Kindern geholfen wird. Doch die Patienten müssen sich an gewisse Regeln halten.

Für viele Männer ist es sicherlich nicht einfach, wenn sie von einer Frau gesagt kriegen: Um 23 Uhr hast du hier zu sein! In der Toilette rauchen? – No-Go! Aber es gibt gegenüber älteren Frauen viel mehr Respekt. Da habe ich es leichter als meine jüngeren Kolleginnen. Ich bin groß und werde respektiert.

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