„Kosovokrieg wird verdrängt“

Interview BETTINA GAUS

taz: Die Zustimmung zur deutschen Beteiligung am Kosovokrieg hat die Grünen seinerzeit an den Rand einer Zerreißprobe geführt. Wie hat sich aus Ihrer Sicht die Diskussion über das Thema seither entwickelt?

Winfried Nachtwei: Das Thema wird verdrängt, sowohl von den Grünen wie auch von der Gesellschaft insgesamt. Die Entscheidung war für viele so schmerzhaft, dass sie offenbar lieber nicht mehr daran rühren wollen.

Warum sollten denn die Befürworter der Militäroperation das Thema verdrängen? Im allgemeinen Verständnis hat doch die Nato den Krieg gewonnen.

Aber das wurde erkauft mit erheblichen Opfern vor allem auf Seiten der zivilen serbischen Gesellschaft. Außerdem ist immer noch strittig, was letzten Endes für den Rückzug der serbischen Kräfte ausschlaggebend gewesen ist. Militärische Auswertungen zeigen, dass die Luftangriffe über weite Strecken erfolglos waren. In anderen Nato-Staaten ist darüber übrigens sehr viel offener diskutiert worden als bei uns.

Woran liegt das?

Wir haben uns – Gott sei Dank – noch nicht an eine interventionistische Rolle der Bundeswehr gewöhnt. In Großbritannien ist das anders. Dort geht es in der Diskussion nicht mehr um Grundsätzliches, deshalb lassen sich Fragen der Wirksamkeit leichter erörtern.

Halten Sie Ihre damalige Zustimmung zur deutschen Beteiligung an den Nato-Angriffen immer noch für richtig?

Es gab zunächst ein intensives Ringen um eine friedliche Lösung, vor allem seitens der Europäer. Das war ein kategorischer Imperativ. Und wir wollten die drohende Destabilisierung der ganzen Region verhindern. Aber ich halte die Kritik für berechtigt, dass wir uns nicht in der notwendigen Radikalität mit den möglichen Konsequenzen des militärischen Vorgehens auseinander gesetzt haben. Alle Fragen danach, was im Falle einer Erfolglosigkeit der Luftangriffe passieren soll, wurden knapp beschieden: Keine Spekulationen. Dabei haben wir es bewenden lassen. Das werfe ich mir heute vor.

Wenn wir über Konsequenzen sprechen, sind wir bei der Frage der urangehärteten Munition, von der wir mittlerweile wissen, dass sie auch mit Plutonium verunreinigt war. Führt es nicht das Ziel des Krieges ad absurdum, wenn die Bevölkerung sich jetzt sowohl im Kosovo wie auch in Bosnien langfristigen Gesundheitsrisiken und Umweltschäden ausgesetzt sieht?

Da kommt ja noch Weiteres hinzu. Wenn diese Luftangriffe das Ziel haben sollten, die Menschen zu schützen, dann ist dieses Ziel in mehrfacher Hinsicht nicht erreicht worden. Die Vertreibungen haben während des Krieges zugenommen. Es wurden Umwegziele gewählt, nämlich zivile Infrastruktur, und außerdem wurden Waffen eingesetzt, die die Bevölkerung noch heute gefährden. So sind die Überreste der Splitterbomben sehr schwer erkennbar und gelten deshalb als fast noch gefährlicher als Landminen. Das ist ein dreifacher Widerspruch zum Ziel einer humanitären Intervention.

Sie gehören zu denen, um deren Zustimmung die Befürworter der Nato-Operation sehr heftig geworben haben. Fühlen Sie sich getäuscht?

Nicht direkt getäuscht, nein. Die internen Unterrichtungen waren nüchtern. Wir haben uns ja auch selbst einiges vorgemacht. Aber wir haben als Grüne immerhin noch während des Krieges wichtige Forderungen gestellt, zunächst bezogen auf die Begrenzung der Ziele und Waffen und dann auf eine Unterbrechung der Angriffe.

Diese Appelle blieben erwartungsgemäß folgenlos.

Ja. Auch das ist eine Erfahrung: In einer Kriegssituation bewegt sich reale Macht vom Primat der Politik und parlamentarischer Kontrolle weg.

Wenn Sie sich die deutsche und die europäische Militärpolitik seit dem Kosovokrieg anschauen: Sind Sie dann zuversichtlich, dass der Primat der Politik zumindest in Friedenszeiten künftig gewahrt bleiben wird?

Der Primat der Politik bedeutet nicht zwangsläufig auch eine zivil bestimmte Politik. Viele Militärs haben ein bedeutend nüchterneres und klareres Verhältnis zu ihrem Instrumentarium als manche Politiker, die sich kaum Gedanken darüber machen, dass Militär weniger auszurichten vermag, als oft geglaubt wird. Auch in der Öffentlichkeit gibt es ja die Vorstellung, Militär sei dafür geeignet, mal einen Knoten durchzuhauen. Das ist falsch.

Militär taugt also nicht zur Lösung politischer Probleme?

Probleme lassen sich auf militärischem Wege nicht lösen. Deshalb ist auch der Begriff „Friedenserzwingung“ völliger Unsinn. Militär kann im besten Fall große Gewalt eindämmen und einen Waffenstillstand erzwingen. Bereinigen lassen sich innerstaatliche Konflikte aber nur mit ganz anderen Kräften und Fähigkeiten.

Wie beurteilen Sie denn vor diesem Hintergrund den Umbau der Bundeswehr in eine Interventionsarmee?

Die Modernisierung der Bundeswehr läuft tatsächlich auf eine verbesserte Fähigkeit zur Intervention hinaus. Einerseits halte ich das für sehr problematisch, andererseits ist das meiner Ansicht nach kaum vermeidbar, denn man braucht heute auch für die Landes- und Bündnisverteidigung und für so genanntes robustes peace-keeping ein höheres Maß an Mobilität und Flexibilität als früher – also ziemlich genau dieselben Fähigkeiten wie für Krisenintervention.

Der Umbau der Bundeswehr wird aber nicht in erster Linie mit neuen Anforderungen der Verteidigungsfähigkeit begründet, sondern mit der Notwendigkeit, in Krisenfällen intervenieren zu können.

Ich halte es für richtig, dass sich die Bundeswehr auch an dem Spektrum von Kriseneinsätzen beteiligt, die mit völkerrechtlichem Mandat der Friedenssicherung dienen. Was Soldaten jetzt in Bosnien und im Kosovo tun, ist sinnvoll. Alles, was darüber hinausgeht – die so genannte umfassende Friedenserzwingung – halte ich und halten die Grünen insgesamt für problematisch, für äußerst riskant und in den Wirkungen für zweifelhaft.

Genau für derartige mögliche Einsätze wird aber jetzt eine europäische Interventionstruppe aufgebaut.

Die Truppe wird für das gesamte Aufgabenspektrum aufgebaut. Auch auf europäischer Ebene gilt, dass schon für robustes peace-keeping interventionsfähige Truppen gebraucht werden.

Die politische Entscheidung besteht also vor allem darin, wofür eine Armee eingesetzt wird, und nicht darin, wo die Schwerpunkte der Modernisierung liegen?

Richtig.

Wie groß bleibt denn nach dem Aufbau einer europäischen Streitmacht der Spielraum der einzelnen Nationalstaaten und ihrer Parlamente?

Beim Aufbau der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in ihrer militärischen Säule hat es die parlamentarische Mitwirkung nicht gegeben. Das waren Initiativen der Regierungen. Parlamentarische Kontrolle kann vor allem über die nationalen Militärhaushalte und Einsatzentscheidungen ausgeübt werden. Am Parlamentsvorbehalt ändert sich aber auch künftig nichts.

Woher nehmen Sie diesen Optimismus? Innerhalb des Bündnisses wird eine größere Arbeitsteilung angestrebt. Ist die Vorstellung nicht realitätsfern, dass sich ein einzelner Staat aus einem Einsatz heraushalten kann, der in einem gemeinsamen militärischen Verband ganz spezifische Aufgaben übernommen hat?

Darin besteht in der Tat das Problem einer weitgehenden Arbeitsteilung zwischen verschiedenen nationalen Streitkräften, der Druck auf das Parlament wächst, einem von den Bündnispartnern gewünschten Einsatz zuzustimmen.

In Somalia haben Bundeswehrsoldaten UN-mandatierte Truppen logistisch unterstützt. An den Luftangriffen auf Jugoslawien waren sie aktiv beteiligt. Jetzt wird die Bundeswehr in eine interventionsfähige Streitmacht umgebaut und die Europapolitik erhält eine zusätzliche militärische Säule. Halten Sie den Vorwurf einer Militarisierung der Außenpolitik vor diesem Hintergrund für absurd?

Diesen Vorwurf haben ja die Grünen lange Zeit selbst vehement erhoben.

Bis einer Ihrer Parteifreunde Außenminister geworden ist. Dann nicht mehr.

Ja, mit der Regierungsbeteiligung war das zu Ende. Aber ich kann diesen Vorwurf trotzdem nicht von der Hand weisen. Zugleich hat, jedoch von der Öffentlichkeit kaum beachtet, der Bau der anderen Säule der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik begonnen – der Fähigkeit zur nichtmilitärischen Krisenbewältigung. Derzeit findet also ein sehr ambivalenter Prozess statt.

Gerade in Kriegszeiten können sich Stimmungen in der Bevölkerung schnell ändern. Halten Sie es für nötig, politische Dämme aufzubauen gegen eine mögliche größere Geneigtheit für Interventionen, als sie heute besteht?

Es ist dringend notwendig, dass die Ziele der Bundeswehrreform und die grundsätzlichen Bedingungen möglicher Einsätze, vor allem aber auch die Chancen ziviler Krisenprävention intensiv öffentlich diskutiert werden. Bisher findet das kaum statt. Der Bundespräsident und auch die katholischen Bischöfe haben in ihrem Friedenswort versucht, Anstöße dafür zu geben. Ich versuche das im Bundestag und anderswo auch immer wieder. Bisher mache ich die Erfahrung, dass diese „gute Nachdenklichkeit“ zwar anerkennendes Nicken hervorruft, die Überlegungen aber auf der politischen Hochebene nicht ankommen. Das Parlament hat es bisher am Willen zur grundsätzlichen Debatte fehlen lassen.

Was wäre Ihrer Ansicht nach die schlimmste vorstellbare Konsequenz, wenn es nicht zu der Grundsatzdiskussion kommt?

Mehr Kriseneinsätze und weniger faktische Krisenbewältigung.