Korruption an der Grenze zu Gaza: Teures Entkommen
Der Übergang in Rafah ist der einzige Ausweg aus dem Gazastreifen. Ägypten lässt kaum Menschen durch. Berichte von Schmierzahlungen häufen sich.
Wie Deema und ihre Familie wollen viele in Rafah vor dem Krieg und der humanitären Katastrophe im Gazastreifen nach Ägypten fliehen. Die Regierung in Kairo lehnt das ab und hat Berichten zufolge auf der ägyptischen Seite des Zauns Sandwälle aufschütten und Soldaten in Stellung gehen lassen. Seit Kriegsbeginn hat nur eine verschwindend geringe Zahl von Palästinensern das Kriegsgebiet über den Grenzübergang Rafah verlassen können.
Die Not der Menschen nutzen ägyptische Beamte und Vermittler offenbar aus, um Profit zu machen: Gehen darf nur, wer einen Platz auf der Liste der Ausreiseberechtigten bekommt. „Uns wurde gesagt, dass wir 11.000 Dollar pro Person zahlen müssen“, sagt Deema. Es seien nur wenige hundert Meter bis Ägypten. Für ihre acht Geschwister und ihre Eltern aber würde es ein Vermögen kosten.
Mehrere Palästinenser haben im Gespräch mit der taz von Forderungen nach bis zu fünfstelligen Bestechungssummen berichtet. Immer häufiger tauchen auch Crowdfunding-Aufrufe von verzweifelten Palästinensern online auf. Ein Nutzer aus den USA schreibt auf der Plattform „gofundme“ unter einem Foto, das seine Familie zeigen soll: „Ihr Haus wurde vollkommen zerstört, sie konnten nur noch Kleider mitnehmen (…) Sie sollen 7.000 Dollar pro Person bezahlen, um Gaza zu verlassen.“ Die Echtheit dieser Aufrufe lässt sich nicht sicher überprüfen.
Drei Kilometer laufen für Wasser
Das Ausmaß der humanitären Katastrophe in der Region um Rafah wird auf Satellitenbildern deutlich: Abertausende weißer Punkte sind in den vergangenen Wochen um die Stadt herum aufgetaucht. Geflüchtete aus dem Norden haben Zelte und Verschläge aus Plastikplanen auf dem kargen Sandboden errichtet, häufig ohne jede Versorgung mit Strom oder sanitären Anlagen. Die Zahl der Menschen entlang der Grenze ist von etwa 300.000 auf rund eineinhalb Millionen angewachsen – mehr als die Hälfte der Bevölkerung des Gazastreifens harrt dicht gedrängt auf engstem Raum aus.
Die Kämpfe gehen indes weiter: Dem Hamas-geführten Gesundheitsministerium zufolge wurden am vergangenen Wochenende binnen 24 Stunden 178 Menschen getötet. Das wäre einer der tödlichsten Tage in Gaza seit Kriegsbeginn. Die Hamas ist trotz der monatelangen Kämpfe alles andere als besiegt. Der britische Sender BBC zitiert einen US-Geheimdienstbericht, wonach bisher nur 20 bis 30 Prozent der Hamas-Kämpfer getötet wurden. Am Wochenende hatte es zudem erneut Angriffe auf Soldaten im Norden des Gazastreifens gegeben, den die israelische Armee zwischenzeitlich als unter Kontrolle erklärt hatte.
Der Zivilbevölkerung fehlt es an Wasser, Strom und Nahrungsmitteln. In den wenigen noch funktionierenden Krankenhäusern müssen Ärzte zum Teil ohne Betäubungsmittel operieren. Das UN-Welternährungsprogramm WFP sprach am Dienstag erneut von einer drohenden Hungersnot. Schon vor Weihnachten warnte das WFP, dass 577.000 Menschen in der schlimmsten Notlage seien.
„Wir müssen drei Kilometer laufen, um einen Eimer Wasser zu bekommen“, erzählt Abu Mohammed al-Masri, der aus dem nördlichen Gazastreifen geflohen ist und mit seiner Familie Schutz in einem Universitätsgebäude in Rafah gefunden hat. Er lebe mit seiner zehnköpfigen Familie in einem Klassenzimmer, zusammen mit vierzig anderen Menschen, erzählt der Linguistikprofessor am Telefon, während im Hintergrund Kinder schreien. „Ich habe versucht, Gaza zu verlassen, um meine Kinder zu beschützen, weil wir nie wissen, wo oder wann die nächste Bombe fallen wird“, sagt al-Masri. Für die Ausreise seiner gesamten Familie habe ein Vermittler 50.000 Dollar von ihm verlangt. „Sie wollen Profit aus Menschen schlagen, die nichts mehr haben.“
Ägypten will von Bestechungen nichts wissen
Die Vermittler hätten es vor allem auf Familien mit kranken oder verwundeten Mitgliedern abgesehen, sagt der ägyptische Journalist und Sinai-Experte Mohannad Sabry. „Diese Menschen bezahlen jeden Preis, um Gaza zu verlassen“, sagt der Journalist und Buchautor, der aus Angst vor den ägyptischen Behörden seit 2015 im Exil in Großbritannien lebt. Die Schuld sehe er aber nicht nur bei den Mittelsmännern oder den korrupten Grenzbeamten: „Wir haben es hier mit staatlich ermöglichter, geförderter Korruption zu tun“, sagt Sabry an die Adresse Kairos gerichtet.
Die Südgrenze des Gazastreifens sei vollständig unter der Kontrolle der ägyptischen Armee und des Geheimdienstes. Zwischen 2014 und 2015 hätten ägyptische Sicherheitsbehörden das Grenzgebiet großflächig geräumt, tausende Menschen umgesiedelt und den Schmuggel durch Tunnel weitgehend unterbunden. Seitdem führe der Weg nach Gaza ausschließlich durch den Grenzübergang Rafah.
Ausreisewillige müssten ihre Daten bei den palästinensischen Behörden einreichen. Die ägyptischen Behörden würden sie nach einer Sicherheitsüberprüfung durch Israel auf eine Ausreiseliste setzen. „Ob und wann ein Name auf der Liste auftaucht, ist Glückssache“, sagt Sabry. Das System sei vollkommen intransparent und die systematische Korruption seit Langem bekannt. „2014 lagen die Preise bei etwa 250 Dollar, 2018 waren sie auf etwa 600 Dollar gestiegen.“ Neu seien die horrenden Summen von derzeit etwa 10.000 Dollar pro Person.
In Kairo weist man die Berichte zurück. Regierungssprecher Dia Raschwan teilte mit, in Rafah würden ausschließlich die offiziellen Gebühren erhoben. „Diese Vorwürfe basieren auf unbekannten und einzelnen Quellen ohne Belege.“ Die zuständige israelische Behörde Cogat äußerte sich auf Anfrage nicht zu den Berichten.
Deema reicht ihr Onkel als Beweis: „Er ist bereits vor einigen Wochen für 8.000 Dollar ausgereist und hat es nach Amman in Jordanien geschafft“, sagt die 22-Jährige. Mit ihren Geschwistern habe sie versucht, ihren Vater zu überzeugen. Doch selbst wenn die Familie das Geld zusammenbekommen könnte. Der Landwirt wolle seine Felder bei Chan Junis nicht zurücklassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken