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Korridor-Dissidenten

■ Über die demokratische Legitimation der Bürgeropposition im neuen Deutschland

DEBATTE

„Entweder bezwingt der Mensch das System oder das System bezwingt den Menschen.“ (Jurij Ginsburg) Das zweite war 40 Jahre Realität in der alten DDR. In den letzten zwei Wochen haben Wolfgang Kil (taz vom 29.6.), Anna Jonas (taz vom 3.7.) und Stefan Schwarz (taz vom 10.7.) mit dem Aufräumen der geistigen Hinterlassenschaft jener Zeit begonnen. Stefan Schwarz demonstrierte dabei, daß in Osteuropa und der DDR nicht nur die gesellschaftlichen Strukturen zusammengebrochen sind, sondern auch die Maßstäbe der Kritik. Was früher festgefügt schien, das System gemeinsamer Feinde, die linksäugelnde Komplizenschaft über Mauern hinweg (siehe Kil) löst sich auf. Das überrascht nicht.

Erstaunlicher ist die Information von Stefan Schwarz, daß es „doch widerspenstige Intellektuelle“ „auf den Korridoren“ des „Überbaus“, „praktizierte Aufklärung“ gab, die leider scheiterten. Für Schwarz sind diese Korridor-Dissidenten das „geistige Potential“, dessen die Linke hier bei uns bedarf, wenn man von zwei Schwächen absieht: daß sie „nicht den Aufstand probten“ (wer will schon gern nach Bautzen?), und daß „sie bei den Entscheidungsträgern (Honecker, Mielke, Krenz und anderen) auf Lernprozesse setzten“, die dann unverständlicherweise ausblieben.

Auch bin ich im Unterschied zu Anna Jonas nicht der Meinung, daß die einmal gescheiterten Intellektuellen in der Produktion umerzogen werden sollten. Der „Bitterfelder Weg“, der Versuch aus bürgerlich Gutwilligen, Einsicht als sozialistischen Realismus hervorzupressen, führt - wie bekannt - eher zu abstoßender Verherrlichung, sinntötender und menschenunwürdiger Arbeitsverhältnisse und ist verlogen ... Damit aber erschöpft sich meine Gemeinsamkeit mit Schwarz.

Die für mich wichtige Frage, was diese Korridor-Dissidenten für die Weiterentwicklung eines zu humanisierenden und ökologisierenden Kapitalismus beitragen können, stellt Schwarz gar nicht. Es ist doch anzunehmen, daß jemand, der 20 Jahre stalinistische Mühlen aktiv überstanden hat, und sogar in die Korridore der Überbau-Mächtigen vorgestoßen ist, erstmal schöpferische Pausen der Selbstbesinnung braucht, bevor er auf unsere Probleme und unsere Mächtigen mit der gleichen Hilflosigkeit, aber diesmal überangepaßt, losgelassen wird? Mich erschreckt, mit welcher Leichtigkeit Schwarz Kriterien unseres westlichen Politik- und Ökonomieverständnisses als Beurteilungsmaßstab für die zukünftige Verwendung der Korridor-Dissidenten übernimmt: Sie solle sich „im rationalen Diskurs“ bewähren (dafür hat Habermas seinen schönen Begriff nun wirklich nicht erfunden). Sie sollen sich den befeuernden Wirkungen des Marktes aussetzen können und nach den Gesetzen des Rechtsstaates, der ihnen nie etwas bedeuten konnte, weil er für sie nichts galt, eine weiße Weste haben.

Erstaunlich, mit welch bürokratischer Herzlosigkeit Schwarz hier seine alten Freunde, einem westlichen Gesinnungs-TÜV zuführen will. Die Sprache, mit der er das begründet, verrät die alte verinnerlichte Schule; sie ist dicht an der selektiven, menschenfeindlichen Terminologie der Stalinisten: „Ihr innovatives Potential (wird) getestet ... Sie (werden) entweder neu integriert oder als unverbesserlich ausgeschieden.“ Schwarz ist, obwohl er scheinbar seine marxistisch-leninistische Herkunft verteidigt, schon in der wiedervereinigten Heimat auf der Seite von Schäuble angekommen. Der hat begriffen, daß Entstalinisierung ohne Gefängnisstrafen und mit vielen neuen Privilegien für die alten Stalinisten den Prozeß der Einheit am reibungslosesten fördert. Davon zeugen nicht nur die Umschulungskurse von sechs Doppelstunden in sozialer Marktwirtschaft der European Business School zum Beispiel, die den ehemaligen ML-Lehrern jedes Nachdenken über ihre eigene Vergangenheit ersparen und den Westdozenten 250,- DM pro Stunde einbringen, sondern auch die bevorstehende großzügige Verbeamtung der DDR-Professoren, der Richter, der Lehrer, der Theaterdirektoren oder Intendanten und Museumsleiter...

Mein Vorschlag: Keine Tests, keine Umerziehung. Öffentliche Warnungen vor den vielseitigen, in allen Gesellschaften brauchbaren Sozialingenieuren, wie Schwarz sie anpreist. Mir fällt beim Lesen seiner Thesen sofort die Meinung Diestels und Iliescus ein, daß kein Staat der Welt auf solche hochqualifizierten und für jede Aufgabe unersetzbaren Spezialisten der Stasi oder der Securitate verzichten könnte. Nein, absolut keine Neuverwendung, keine technokratischen Sachargumente oder sozialen Rücksichten. Stattdessen Nachdenken, Besinnen, Fragen und Selbstzweifel das geht nur ohne Anpassungszwang an neue Karrieren. Die radikale Entlassung aller öffentlichen Bediensteten an den Korridoren der alten Macht ist demokratischer als jeder Test auf Wiederverwendbarkeit. Alle Leute, die über Fähigkeiten verfügen, werden einen neuen Platz auch ohne linke, sozialbürokratische Fürsorge finden und was ist eigentlich dagegen zu sagen, wenn sie, wie so viele Arbeiter in der DDR was Neues lernen müssen. Ersatz für sie, für den Neuanfang, gibt es genug: Biermann wird Kultusminister, Freya Klier Intendantin beim DDR-Fernsehen und Wolfgang Templin Rektor der Humboldt-Universität im neuen Ganz-Berlin.

Falsche Rücksichten gegenüber der DDR im Umbruch haben bisher die Haltung vieler unserer linken und grünen Freunde geprägt. Sie waren selbst gelähmt, durch den von den alten Stalinisten lancierten Anschlußvorwurf, jeden Kritiker der DDR-Verhältnisse auch und gerade im Umbruch der letzten Monate zum Kohl-onisierer oder „Kolonisierer“ erklärte. Die DDR-Opposition schweigt in diesen Fragen bis auf Ausnahmen (Reich und Ullmann), dazu ebenso, wie wir Grünen bis jetzt nichts dazu zu sagen wissen. taz (Stasi-Listen) und 'FAZ‘ (Christa-Wolf-Debatte) demonstrieren, daß der Anstoß zur Ent -Stalinisierungsdiskussion aus der BRD kommen muß.

Dabei dürfen wir uns nicht, wie von Schwarz versucht, mit dem Vorwurf, ihr wollt euch zu Staatsanwälten der Schuldfragen der DDR-Menschen aufspielen, zum Schweigen zwingen lassen. Ich will auch nicht darüber streiten, ob wir in den Knast gegangen wären oder nicht. Das wird unbeantwortet bleiben und vor allem lenkt es von den entscheidenden Fragen ab. War die DDR bis zum 9. November ein durch und durch stalinistisches System oder nicht? Was war freiwillige Anpassung, intellektuelle Zurichtung oder emotionale Pest? Ist die PDS trotz aller Läuterungen immer noch eine stalinistische Partei? Warum ist Gysi in unseren Kreisen wieder salonfähig? Wo sind die sozialen Errungenschaften des real existierenden Sozialismus? Gibt es einen wissenschaftlichen Sozialismus oder war das immer nur eine totalitäre Herrschaftsideologie einer selbsternannten Elite von Menschenverächtern? Gibt es wirklich, außer in der Malerei, in der DDR Fortschritte in den kulturellen Prozessen?

Für Schwarz war das alles nicht so schlimm, bestenfalls war es etwas „fortschrittsfeindlich“ und mit leicher Hand schreibt er die „paar verlorenen Jahre“ ab. Ganz anders de Maiziere, er konfrontiert mit Hölderlin die Volkskammer beim Neubeginn: „Beim Himmel, der weiß nicht was er sündigt, der den Staat zur Sittenschule machen will. Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte!“ Soll das immer so weiter gehen, daß die Konservativen, den Sinn von Freiheit in der Souveränität der Individuen gegen den Staat begreifen, aber diesen Grundsatz in der Politik praktisch selten einlösen, während die Linken hier und drüben vor allem an sich selbst, an ihre Sendung, die Allmacht der von ihnen erfundenen Machtapparate glauben und die Menschen und ihren Willen zur Freiheit gering schätzen? Neues republikanisches Denken scheint Rückhalt eher bei den DDRlern zu finden, die sich für die D-Mark und damit für alle Risiken und Lebenschancen in Freiheit entschieden haben, als bei den alten und den neuen grünen Linksintellektuellen, die die jetzt selbstverständlichen Verteilungskämpfe in der alten DDR zu neuen Klassenkämpfen stilisieren, um so ihre alten Ideologiegespinste noch ein paar Kapitel weiter schreiben zu können. Ist es schlecht bestellt um die demokratische Legitimation der Bürgeropposition in der Neuen Republik Deutschland?

Udo Knapp

Der Autor ist Mitarbeiter beim Fraktionsvorstand der Grünen in Bonn.

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