Kool Keith Konzert in Berlin: Ein Frauenarzt vom Jupiter
"Ein guter Pullover kann einfach gestrickt sein": Rapper Retrogott und vor allem Kool Keith begeisterten beim Konzert in Berlin mit Rollenwechsel, Rhythmus und Reimereien.
Es gibt keinen einflussreicheren Rapper als Kool Keith. Bereits 1988 hat er mit seiner Crew Ultramagnetic MCs die Messlatte im HipHop für alle Ewigkeiten astronomisch hochgehängt.
Wo Weggefährten stets auf die knallharte Abbildung der Ghettorealität setzen, bewegt sich Kool Keith von Beginn an eskapistisch zwischen den freudschen Bewusstseinsetagen von Ich, Über-Ich und Unterbewusstsein. Und reist angstfrei durch die Geschwindigkeit seiner Gedanken: "Travelling at the speed of thought", noch heute ungeschlagen in seiner Comic-Anmutung, ist ein Rap-Track, der sich frei und virtuos allein mit der Kraft der Sprache aus der Hölle der South Bronx herausmanövriert.
Die Ultramagnetic MCs wurden nie zu Stars der Generation MTV und lösten sich schließlich Mitte der neunziger Jahre in Wohlgefallen auf. Kool Keith begann von nun an in schicksalsbedingter Narrenfreiheit verrückte Bühnenfiguren zu entwickeln. Seine berühmteste ist die Figur des Dr. Octagon, ein Frauenarzt vom Planeten Jupiter.
Das Debütalbum von Dr. Octagon aus dem Jahre 1996 gehört zu den visionärsten HipHop-Alben der Neunziger. Auch am Mittwochabend im gut gefüllten Festsaal Kreuzberg ist man vollkommen überwältigt, wie etabliert, ja wie kultiviert etwa der schizopathische HipHop-Gruseltrack "Blue Flowers" mit Dr. Octagon als irrem Gynäkologen am Mikrofon funktioniert.
Welt und Wetter werden immer verrückter - keine Frage. An diesem Abend schlüpft der selbsternannte "God of Rap - Lord of Music" in seinen multiplen Persönlichkeitsraps von Rolle zu Rolle, vom Schwarzen Elvis zu Dr. Doom und vom irdischen "Sex Style" hin zum notgeilen Astronautenrap. In "G-Spot", einem dem Gräfenberg-Punkt gewidmeten Freistilrap, erzählt er detailgenau von Sex mit einer deutschen Frau, die im flotten Dreier mit seinem DJ endet. Der afroamerikanische HipHop-Humor, der seine Unabhängigkeit vom weißen Rockpop-Establishment gerne durch radiountauglichen, extra schmutzigen Sexismus zum Ausdruck bringt, entfaltet sich an diesem Abend bei den Berliner Homies, Ladies und Bitches vollends: Kool Keith fickt unser System!
Am Ende der Show sieht man den fast 50 Jahre alten Rapper mit seinem Glitzerkopftuch umgeben von jungen Frauen, die auf die Bühne gebeten werden. Eine blondierte Frau im roten Dress wünscht sich sehnlichst das Stage-Diving, und das Publikum erfüllt ihr diesen Wunsch, während die frisch gebackenen Tänzerinnen begeistert ihre Hintern über die Bühne schwingen. Trotz aller expliziten Sexdarstellungen in den Raps liegt in keinem Moment miefiger Sexismus in der Luft.
Hier schlägt Afrofuturismus den Sexismusverdacht in unseren Köpfen mit seinen gebrochenen Beats, die nicht von dieser Welt sind. Weil jemand wie Kool Keith eben einfach nicht von dieser Welt sein will. Was in Berlin aufgeführt wird, ist Realsatire und Science-Fiction-Comedy, intergalaktischer Sozialdarwinismus, irgendwo zwischen "Men in Black" und den "Simpsons".
Aus deutscher Sicht, um auf den harten Boden der Tatsachen zurückzukommen, gab es an diesem Abend aber noch ein weiteres Highlight: Der Kölner Rapper Retrogott, der für Kool Keith anheizte, wäre allein schon das Eintrittsgeld wert gewesen. Endlich gibt es im HipHop-Untergrund im vielleicht unfunkiesten Land der Welt mal wieder einen MC, der den Biss und die Sprachgewalt besitzt, Synapsen-Berge zu versetzen. Man hat seit dem jungen Dendemann zu Eins-Zwo-Zeiten keinen plausibleren Rapper mehr am Mikrofon gehört: "Ein guter Pullover kann einfach gestrickt sein." Word!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!