Konzert von Alterations in Berlin: Kollektive Ergotherapie
Ganz ohne muckermäßig überspannte Atmosphäre: Die legendäre Improvisationsgruppe Alterations und ihr Auftritt im Berliner Exploratorium.
Am Anfang seines Buchs „Into the Maelstrom“ schreibt Musiktheoretiker David Toop, Improvisation sei das Grundrauschen allen Lebens, auch des reguliertesten: „Leben, wie improvisierte Musik, ist ein verstörender Konflikt zwischen Vorhersehbarkeit und Kontingenz.“
Diese Perspektive ist wichtig, denn sie enthebt die musikalische Improvisation den hermetisch wirkenden Szenekontexten, in denen sie vor allem stattfindet, und Orten wie dem Exploratorium am Mehringdamm mit seinem Logo von der Anmutung einer Ergotherapiepraxis und dem Charme eines gymnasialen Musiksaals, in dem am Donnerstag Toops Improvisationsgruppe Alterations auftrat.
„Sound and Lecture – Improvisation im Dialog“ nennt sich die Reihe, in deren Rahmen dieser Abend stattfand, sie verbindet Konzert und Artist Talk. Angekündigt war eine Reflexion über den „Dream of Freedom“ der improvisierten Musik, den Toops Buch im Untertitel benennt.
Der Worst Case wäre in diesem Falle natürlich: Am Tag nach dem Frauenkampftag sitzen vier alte Männer auf der Bühne und erzählen einem mehrheitlich männlichem, älteren Publikum etwas von der Freiheit. Das Szenario vor Ort hätte das sicher auch hergegeben. Aber die Beteiligten dann eben doch nicht.
Die Gruppe Alterations spielt seit 1977 zusammen und ist damit eine der ältesten noch existierenden Combos der freien Improvisation – wenn die Musiker auch für Jahrzehnte nicht gemeinsam auftraten und hier erst den fünften Gig nach ihrem erneuten Zusammenkommen 2015 performten.
Die Musiksaal-Assoziation
Jedes ihrer Mitglieder hat dabei einen ganz eigenen Platz im Impro-Kosmos, spielte mit Größen der Jazz- oder Avantgardemusik – oder war, wie David Toop, Mitglied einer Post-Punk-Band wie Flying Lizards. Wenn nicht gar, wie Terry Day, der Mensch, der New-Wave-Legende Ian Dury an die Musik heranführte.
Die Musiksaal-Assoziation des Exploratoriums verstärkt sich beim Auftritt noch einmal dadurch, dass die Alterations alle wie exzentrische Lehrer wirken: Vor allem Steve Beresford, wie er mit zu großem Jackett vor dem Flügel und seinem großen Arsenal an Krams steht, Arme in die Hüfte gestützt, Zunge zwischen die Lippen geklemmt wie der neue Grundschuldirektor, der neugierig ist, wie das nun hier läuft.
Hinter ihm irrlichtert Terry Day an seinem Schlagzeug herum – der Einzige, der tatsächlich aussieht wie die Musiklegende, die er ist, faltig und markant. Er streichelt und prügelt seine Drums und Becken mit Bögen, Sticks und Feudeln, baut noch ein wenig auf und um.
Irgendwann zieht er sich mit einem lila Luftballon in die zweite Reihe zurück und spielt herzzerreißende Quietschsounds. Toop und Peter Cusack derweil zersägen Gitarren und Gitarrenähnliches, lassen Spielzeugkäfer laufen, blasen Bambusstäbe oder beobachten erstaunt, wie sich der Klang eines Handventilators über Gitarrenseiten entwickelt. Wenn sich zum Ende des Sets hin Toop einmal doch zu einer Andeutung von musikalischem Narrativ versteigt, repetitiven Rockakkorden, eilt schnell Beresford herbei und schiebt eine Andeutung von Klingelton-Jingle-Bells in den Sound.
Es wird laut gelacht
Was am Auftritt wirklich bemerkenswert ist: Er ist unterhaltsam. Es wird, tatsächlich, laut gelacht. Nie ist die Atmosphäre muckermäßig überspannt, auf Angriff gebürstet. Und es gelingt. Die improvisierte Musik, so selten das auch ist, sie gelingt, wird lebendig, zieht das Publikum hinein in eine ephemere Klangwelt. Wenn Terry Day in der anschließenden Diskussion sagen wird, es gebe nichts, was eleganter, was höher entwickelter wäre als ein Mensch, der auf eine Bühne geht, um dort ein Instrument zu spielen – man kann ihm zustimmen.
Dabei ist der Artist Talk der schwächere Teil des Abends. Zu oft verliert man sich in Scherzen, statt analytisch wirklich vorzudringen in das, was da gerade zuvor passierte. Immerhin singt niemand hier das Lob der Freiheit, das Moderator Reinhard Gagel beschwört, im Gegenteil.
Für Toop ist die Freiheit, die in den Anfängen der Impro-Musik so selbstverständlich mit Bürgerrechten und linken Kämpfen assoziiert war, heute ein rechtes Wort, das er kaum wiedererkennt. Dass die musikalische Improvisation heute ähnlich konservativ ist wie die Musikwelt, die sie in der Nachkriegszeit unterwandern wollte, kann er nicht bestreiten.
Dennoch versperrt er sich nicht einem Utopiebegriff, der ihr noch immer innewohnt, biete sie doch der hyperindividualisierten Gesellschaft ein Gegenmodell des Miteinanders der kollektiven Musikimprovisation, in dem wiederum das Individuum nicht untergeht, sondern mit seinen Eigenheiten und Gewohnheiten von den anderen als Mitspieler akzeptiert und eingebunden wird.
Die Zukunft ist abhandengekommen
Vielleicht verhält es sich mit der Utopie und der Improvisationsmusik aber auch so, wie Mark Fisher es für Pop vorschlägt: Auch sie erzählt heute bloß, wo die Zukunft abhandengekommen ist, immer wieder von den abgelegten Vorschlägen für das Morgen, die, wie der rechts gewendete Freiheitsbegriff, nicht mehr angeeignet werden können – ohne, dass neue im Raum stünden.
Vielleicht ist das Spiel der Alterations mit dem Spielzeug, das den Habitus des gegen die Hörgewohnheiten anrennenden, kämpferischen Improvisationsmusikers unterläuft, ein Versuch, die Improvisation von den großen Worten zu bereinigen, um somit ihr Potenzial im Kleinen zu bewahren. Die Utopie des Kinderspiels zu verteidigen, wo sie nicht im Spiel imaginierter revolutionärer Kräfte sich findet – das ist nicht viel. Darüber hinausgehen aber, wenn das wieder anders werden soll, müssen sowieso andere als diese Veteranen.
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