Konzeptalbum von Laurie Anderson: Wagemut und Grenzüberschreitung
Laurie Anderson veröffentlicht mit „Amelia“ ein Werk über die US-Flugpionierin Amelia Earhart. Deren Kampf für Gleichberechtigung fließt darin ein.
Als die Pilotin und Flugzeugpionierin Amelia Earhart am 21. Mai 1937 ihre Propellermaschine vom Typ Lockheed 10-E Electra besteigt, hat sie Großes vor: Als erster Mensch will die 39-jährige US-Amerikanerin die Erde entlang des Äquators umrunden. Die 40.000-Kilometer-Route soll Earhart und ihren Navigator zunächst von Miami aus durch die Karibik und entlang der Ostküste Südamerikas führen.
Die Vorbereitungen verlaufen holprig, ein erster Rekordversuch war abgebrochen worden und die öffentlichkeitswirksamen Gefahren des Unterfangens setzten die bekannte Pilotin zusätzlich unter Druck. Im Jahr 1928 hatte sie, noch als Passagierin, als erste Frau den Atlantik in einem Nonstop-Flug überquert, vier Jahre später als erste Frau im Alleinflug.
Das wagemutige Unterfangen im Frühling 1937 endete bekanntermaßen tragisch. Nachdem drei Viertel der Strecke erfolgreich zurückgelegt worden waren, brach am 2. Juli der Funkkontakt ab und die Electra ging samt Besatzung im Pazifik verschollen.
Gründliche Auseinandersetzung
Anderthalb Jahre darauf wurde Earhart für tot erklärt. Ihre Lebensgeschichte hat neben wilden Theorien über den Flugzeugabsturz auch zahlreiche Filme und Songs inspiriert. Die gründlichste musikalische Auseinandersetzung mit ihrem letzten Flug stammt von der 1947 in Illinois geborenen Musikerin Laurie Anderson.
Laurie Anderson: „Amelia“ (Nonesuch/Warner)
Nun veröffentlicht die US-amerikanische Künstlerin ein Album mit Musik dieses Projekts. In Form von 22 Miniaturen erzählt Anderson in „Amelia“ den letzten Flug Earharts nach. Angeregt wurde das Projekt schon vor Jahrzehnten von dem US-Komponisten Dennis Russell Davies als Auftragsarbeit zum Thema Flug.
Für die Studioaufnahmen dirigiert Davies selbst das philharmonische Orchester Brno, das die lautmalerische Klangkulisse für Andersons warme Erzählstimme aufbettet. Die Anfrage an Anderson für eine Zusammenarbeit kam nicht von ungefähr, hat sich diese doch immer wieder künstlerisch mit Themen wie Fliegen, Raumfahrt und Schwerelosigkeit auseinandergesetzt.
Erste Kunststipendiatin der NASA
„Excellent Birds“ etwa ist ein großartiges Duett mit Peter Gabriel, aufgenommen 1984 für eine per Satelliten-TV ausgestrahlte Videoinstallation des Medienkünstlers Nam June Paik. 2002 war Anderson erste Kunststipendiatin der US-Raumfahrtbehörde NASA und entwickelte währenddessen „The End of the Moon“, eine dem neuen Album ähnliche Mischung aus Reisebericht und experimentellem Soundscape.
Auch für die feierliche Zeremonie anlässlich der Schließung des Berliner Flughafens Tegel im Jahr 2020 lieferte Anderson mit der Virtual-Reality-Arbeit „To The Moon“ einen künstlerischen Beitrag. Im April 2024 wurde schließlich ein Asteroid im All nach ihr benannt.
Nicht zu vergessen „O Superman“, Andersons Überraschungshit von 1981, der nordamerikanische Frontier-Romantik mit der Faszination für neue Technologien vereint und durch ihre von einem Vocoder verfremdete Stimme seine unverwechselbare Klangcharakteristik bekam. Durch TikTok-Teasing wurde „O Superman“ Anfang des Jahres erneut zum Hit. Andersons verspielte Intonation und die hierarchiefrei zwischen Werbejargon, Alltagsfloskeln und literarischen Anspielungen pendelnde Formensprache sind typisch für ihr Œuvre.
Berufswunsch Pilotin
Dass sie sich für Earharts Lebenswerk begeistert, überrascht daher nicht. Die Pilotin bestand schon als Teenagerin auf ihrem Berufswunsch und setzte sich entgegen allen gesellschaftlichen Konventionen durch. Mit steigender Bekanntheit widmete sie sich als Frauenrechtlerin der Luftfahrt und forderte Gleichberechtigung im Flug- und Ingenieurwesen.
Earharts rebellische Attitüde, Stilsicherheit und Technikaffinität sowie der kalkulierte Umgang mit dem medialen Drumherum lassen sie wie eine frühe Geistesverwandte Laurie Andersons erscheinen. Anderson hatte bei aller Verwurzelung in Kunst und Experiment nie Scheu vor Popästhetik und Unterhaltungskultur. Liebevoll bezeichnet sie Earhart als „die erste Bloggerin“. Aus Earharts umfangreichen Tagebucheinträgen hat Anderson das Textmaterial für das Album kondensiert.
„Amelia“ beginnt mit Motorengeräuschen, nimmt dann eine Abzweigung in Richtung repetitiver Minimal-Music-Schleifen und klingt mit Einsetzen von Andersons freundlicher Erzählweise plötzlich nach vorgelesenem Lexikoneintrag, ehe schlingernde Streicherlegati das tragische Ende der Geschichte vorwegnehmen.
Hörbares Staunen
Damit folgt „Amelia“ den Ereignissen bei dem verhängnisvollen Flug in chronologischer Reihenfolge, basierend auf Earharts Notizen und vorgetragen mit der für Laurie Anderson typischen begeisterten Grundhaltung, die sich auch angesichts von Widerständen immer als hörbares Staunen über die Welt in ihrer Mannigfaltigkeit ausdrückt.
Dramatische Umstände während der Reise, wie Hitze und Hunger und technische Probleme, werden eher durch die Musik ausgedrückt, die sich bedrohlich verdichtet, ohne in filmmusikalische Untermalungsklischees zu kippen.
Ein wenig kitschig wird es gelegentlich auch, aber die einzelnen Stücke sind so kurz und abwechslungsreich und die Texte so pointiert, dass das Albumkonzept sich nie weit von seiner Protagonistin entfernt. Anderson changiert übergangslos zwischen erzählenden und erzählten Rollen, sie dramatisiert und spekuliert nicht und erhält ihrer Figur so die Würde.
Entspannt, informativ, berührend
Earhart selbst kommt ebenfalls zu Wort: „This Modern World“ enthält Originalaufnahmen aus ihrem Radiovortrag „A Woman’s Place in Science“ von 1935. Irgendwo zwischen Hörspielfeature, augenzwinkernder Variation des vermeintlich weiblichen Genres eines Frauenreisejournals und Filmmusik angesiedelt, ist Anderson und ihren Mitstreiter:innen ein so entspannt informatives wie berührendes Werk gelungen.
„Amelia“ zelebriert im buchstäblichen wie übertragenen Sinn Grenzüberschreitungen, feiert Emanzipation und den Glauben an das positive Potenzial von Fortschritt und Wissenschaft. Umso paradoxer erscheint es, dass Laurie Anderson zuletzt wieder durch ihre Unterstützung der Boykottkampagne BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) auffiel.
Im Januar 2024 hatte sie entschieden, eine Professur an der Folkwang Universität der Künste in Essen nicht anzutreten. Den zum Bruch mit der Hochschule führenden Inhalt des „Letter against Apartheid“ hatte die Künstlerin schon 2021 unterstützt und sich auch 2018 beim Gerangel rund um Ein- und Ausladung der Band Young Fathers zur Ruhrtriennale öffentlich auf die Seite der Kampagne gestellt, die israelische Künstler:innen und Wissenschaftler:innen isolieren will und dafür auf eine Politik der Einschüchterung setzt.
Keine Weltverbesserungskunst
„Amelia“ ist kein aktivistisches Album, so wie Anderson ihre Kunst nie als weltverbesserndes Belehren betrieben, sondern sich mit politischen und gesellschaftskritischen Inhalten immer auf eine für unterschiedliche Perspektiven und Wahrnehmungsformen offene Art auseinandergesetzt hat. Ihre Unterstützung des BDS markiert einen Gegensatz dazu, wo Anderson selbst ihre Grenzen der Dialogbereitschaft zieht.
Ihrer Bedeutung als eine der wichtigsten Medienkünstlerinnen der letzten Jahrzehnte tut das keinen Abbruch, es schwingt aber mit auf einem Album, das den Freiheitswillen und die visionäre Leistung einer Frau thematisiert, die sich mit gesellschaftlichen Beschränkungen und einer statischen Sicht auf die Welt nicht abfinden wollte.
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