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Konzentrationslager SachsenhausenAnklage gegen SS-Wachmann

Die Staatsanwaltschaft Neuruppin beschuldigt einen 100-Jährigen, im KZ Sachsenhausen mitgemordet zu haben. Es geht um über 3.500 Fälle.

Der ehemalige KZ-Wachmann soll Beihilfe zum Mord an mehreren tausend Menschen geleistet haben Foto: Markus Schreiber/ap

Berlin taz | Die Staatsanwaltschaft im brandenburgischen Neuruppin hat einen ehemaligen SS-Wachmann des Konzentrationslagers Sachsenhausen angeklagt. Der heute 100 Jahre alte Mann wird beschuldigt, vom Januar 1942 bis zum August 1944 mit einer kurzen Unterbrechung im KZ Beihilfe zum Mord an mindestens 3.518 Menschen geleistet zu haben.

Trotz seines hohen Alters sei der Angeklagte einem forensisch-psychiatrischen Gutachten zufolge eingeschränkt verhandlungsfähig, sagte ein Sprecher der Anklagebehörde der taz. Die Ermittlungen gehen auf Hinweise der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg zurück und liefen seit dem Frühjahr 2019. In derselben Sache ist noch ein weiteres Verfahren in Neuruppin anhängig. Der jetzt Angeklagte bestreitet die Tatvorwürfe.

Bei den ihm zur Last gelegten Tötungen handele es sich um Mindestzahlen, sagte der Sprecher. Es gehe dabei um zwei Tatkomplexe: die Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener im Jahr 1942 und sogenannte Kriegsendverbrechen im Jahr 1944.

Nach Sachsenhausen bei Oranienburg sind beginnend 1936 insgesamt etwa 200.000 Häftlinge deportiert worden. Viele starben an den feindlichen Lebensbedingungen, es kam aber auch mehrfach zu Massenerschießungen.

Mindestens 30.000 Tote in Sachsenhausen

In einer Erschießungsanlage ließ die SS vom Sommer 1941 bis in das Jahr 1942 zwischen 13.000 und 18.000 sowjetische Kriegsgefangene ermorden. Sie waren gar nicht erst registriert worden. Um 1943 entstand in dem KZ auch eine Gaskammer, die allerdings nur in speziell angeordneten Fällen benutzt wurde. Nach Schätzungen von Historikern sind mindestens 30.000 Menschen in Sachsenhausen ums Leben gekommen.

Der Angeklagte habe in Sachsenhausen „die gesamte Bandbreite der Tätigkeiten“ als SS-Wachmann übernommen, sagte der Sprecher der Staatsanwaltschaft Neuruppin. Er sei schon im Spätherbst 1941 nach seiner Ausbildung in das KZ gekommen und habe unterschiedlichen Kompanien angehört.

Das Landgericht Neuruppin muss nun über eine Zulassung der Anklage und die Eröffnung des Hauptverfahrens entscheiden. Der Angeklagte lebt im Bundesland Brandenburg.

Erst am Freitag vergangener Woche war bekannt geworden, dass die Staatsanwaltschaft Itzehoe Anklage gegen eine ehemalige Sekretärin erhoben hat, die im KZ Stutthof eingesetzt war.

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4 Kommentare

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  • Kann mir mal jemand erklären, warum man Menschen, die in Konzentrationslagern für das Leid und den Tod anderer Menschen verantwortlich sind, erst dann verurteilt, wenn sie bereits Greis oder Greisin sind, und nicht schon 30 Jahre früher? Gab's da Widerstände (falls ja von wem?) oder gab's - was ich mir nicht so recht vorstellen kann - die Beweis- und Aktenlage nicht her? Jegliche Verurteilung wird in einem solch hohen Alter ad absurdum geführt. Das soll jetzt nicht heißen, das Verfahren nicht aufzunehmen. Aber: Wem der damaligen Leidtragenden kann das so späte Verfahren jetzt noch Genugtuung bzw. Gerechtigkeit bringen?

    • @Alfonso el Sabio:

      Eine sehr gute Frage!!



      Lesen Sie von Götz Aly, -Unser Kampf 1968-

      Durch die Frankfurter Auschwitzprozesse der 60er, die auch auf Initiative des damaligen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer zurück ging wurden, so gut es irgendwie ging, einige Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen. Die Staatsanwälte arbeiteten mit größter Energie an der Verfolgung der NS- Verbrechen. Es fehlte ihnen jedoch an gesellschaftlichem Beistand. Gerade von den damals jungen Deutschen fehlte es am Interesse an diesen Prozessen. Auf Seite 153 seines Buches „Unser Kampf 1968“ Schreibt Götz Aly, Zitat: „Heute behaupten viele der Altachtundsechziger, sie hätten die „Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Gang gesetzt, und klopfen sich dabei gegenseitig auf die Schultern. Richtig ist vielmehr, dass sie beziehungsweise wir den Prozess der deutschen Selbstaufklärung empfindlich behindert haben, […......].“



      Im Folgenden zählt Aly all jene auf, die (um 1927 Geborenen) wie Martzin Brozat, Kurt Sontheimer, Reinhard Henky, Hans-Adolf Jacobsen, Helmut Krausnick etc, die Ihre Beiträge gebracht hatten. Die "Alten" wollten davon nichts wissen. Die damals jungen Leute hatten alles im 68-er Getöse untergehen lassen; schlimmer noch, sie hatten den "alten Faden" wieder aufgegriffen. Lesen Sie wieder in o.g. Buch. Auf Seite 167 schreibt Aly in seinem Buch „Unser Kampf 1968“ Zitat:



      „Im Juni 1969 berichtet Theodor W. Adorno in „außerster Depression“ seinem Freund Herbert Marcuse, wie „man in Frankfurt den israelischen Botschafter niedergebrüllt hat“ und fügte für den Protestmentor Marcuse an: „Du müsstest nur einmal in die manisch erstarrten Augen derer sehen, die, womöglich unter Berufung auf uns selbst, ihre Wut gegen uns kehren.““



      Zitat Ende

      • @Günter:

        Vielen Dank für die ausführliche Antwort und die Geschichts-Nachhilfestunde (den Begriff meine ich positiv!).

    • 9G
      96177 (Profil gelöscht)
      @Alfonso el Sabio:

      weil es Christen gibt, die sich nicht zu schäbig sind, solche Sätze der Nachwelt zu hinterlassen - und deren Wähler:

      "Das Leben im Stadion ist bei sonnigem Wetter recht angenehm."

      Bruno Heck, Generalsekretär der CDU, nach seiner Rückkehr aus Chile am 18.10.1973
 über die Lage der im Stadion von Santiago de Chile gefangenen und gefolterten Chilenen (dort starb auch Victor Jara).