Kontroverse um Erderwärmung: Kratzen am Heiligtum

Eine IPCC-Studie widerspricht dem Weltklimarat: Ohne drastisches Gegensteuern innerhalb eines Jahrzehnts könnten die Eisschilde verschwinden.

Eine Eisscholle bricht vom Festlandsockel der Antarktis ab. Laut IPCC-Studie nur ein Vorgeschmack dessen, was da noch auftauen wird. Bild: dpa

Eine Szene auf dem Parkett der letzten Weltklimakonferenz. "Es ist überhaupt noch nicht erwiesen", erklärt ein Diplomat, "dass der Weltklimarat Recht hat mit seinen Szenarien zum Klimawandel." Mit am Verhandlungtisch sitzt Andreas Fischlin, Mitglied der Schweizer Regierungsdelegation und Professor für "Terrestrische Systemökologie" an der Züricher Universität. "Ich wäre diesem Kerl am liebsten an die Gurgel gesprungen", räumt er nach der Verhandlung ein. Vorher erklärt er feierlich: "Es hat in der Menschheitsgeschichte nie eine umfassendere, bessere Wissenschaft gegeben als die des IPCC."

Angriffe auf den nobelpreisgekrönten Weltklimarat gehören zu dessen Tagesgeschäft. Was aber, wenn diese aus den eigenen Reihen kommen? Renommierte US-Klimaforscher um James Hansen, Chef des Goddard Institute for Spaces Studies der Nasa, haben jetzt an einem Heiligtum des IPCC gekratzt. Das nennt sich "450 ppm" - 450 Teile Kohlendioxid pro Million Teile Atmosphäre. Der IPCC sagt: Mehr als 450 ppm dürfen sich nicht in der Atmosphäre konzentrieren, sonst steigt die globale Temperatur um durchschnittlich 2 Grad Celsius. Die Klimakatastrophe. Im IPCC ist die Meinung mehrheitsfähig, dass das vollständige Abschmelzen der drei großen Eisschilde - Grönland ist das dritte - so lange verhindert werden kann, wie die globale Temperatur nicht um mehr als 2 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau steigt. Das entspricht 450 ppm.

Die Wissenschaftler um Hansen sagen nun: Die Menschheit befindet sich bereits an dem Punkt, an dem der Masseverlust der arktischen und antarktischen Gletscher zu einem unumkehrbaren Prozess wird. Die Reduktion der Kohlendioxidemissionen müsse daher wesentlich drastischer als bisher ausfallen. Hansens Studie geht davon aus, dass angesichts des derzeitigen Wachstums der Emissionen schon ein weiteres Jahrzehnt ohne nennenswerten Klimaschutz ausreichen kann, um an den Polen einen - in menschlichen Zeiträumen - irreversiblen Prozess in Gang zu setzen, an dessen Ende die Eisschilde Grönlands und der Westantarktis, vielleicht sogar der Ostantarktis, verschwunden wären.

Der Ansatz der Klimaforscher um Hansen besteht darin, sich die verschiedenen Arten von Wechselwirkungen im Klimasystem genauer anzuschauen. Zu wenig berücksichtigt bleiben nach ihrer Meinung relativ langsam wirkende Rückkopplungen, etwa das Auftauen der Dauerfrostböden in der Arktis, durch die sich die Reflektivität der Erde ändert: Zieht sich das Eis zurück, wird mehr Sonnenenergie von Meer oder Erdboden aufgenommen. "Wenn wir lang genug 450 ppm haben werden, wird wahrscheinlich das gesamte Eis schmelzen - der Meeresspiegel steigt dann um 75 Meter", so Hansen zum Guardian.

Kohlendioxid hat in der Erdatmosphäre die unangenehme Eigenschaft, Wärmestrahlung zwar auf die Erde durchzulassen, die Reflexion aber hält es auf - etwa ein Drittel der Energie jedes Sonnenstrahls wird ins All zurückgeschickt. Je dichter die Konzentration ist, also je mehr ppm Kohlendioxid am Himmel sind, desto mehr Energie bleibt auf der Erde. Der Treibhauseffekt.

Bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts legte die Kohlendioxid-Konzentration in der Atmosphäre um jährlich 1,5 ppm zu, auf 390 ppm im Jahr 2005. Würde die Konzentration 450 ppm überschreiten, würden sich selbst verstärkende Effekte eintreffen: In den Permafrostböden lagern riesige Mengen Klimagas; die Meere, die bereits heute große Kohlendioxidspeicher sind, könnten umkippen und dieses Kohlendioxid wieder freigeben.

Dem widerspricht nun Hansen. Bereits 1 Durchschnittsgrad mehr würde das globale Klima irreversibel aus dem Takt bringen. Natürlich kenne die weltweite Klimawissenschaft die Arbeiten des Amerikaners, "aber der IPCC konnte den Argumenten nur in Teilen folgen", so der Schweizer Fischlin gegenüber der taz. "Dass der Meeresspiegel um einige Meter ansteigen wird, ist allen klar. Stittig ist die Frage, wie schnell das gehen wird: In 100 Jahren? In 300 Jahren? Schneller?"

Beängstigend sei aber, dass die Modelle des IPCC scheinbar von der Realität überholt werden. "Was wir in den polaren Gebieten für Entwicklungen haben, läuft derzeit schneller ab, als unsere Simulationsmodelle verhergesagt haben", so Fischlin. Hat also Hansen Recht?

"Wir müssen verstärkt an unseren Simulationen arbeiten." Hansen immerhin habe die Wissenschaftler aufgescheucht, sagt Fischlin.

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